Nach Hanau (II.) – die Abschaffung des Konservatismus

Die domi­nan­te Reak­ti­on auf Hanau ist die For­de­rung und Ankün­di­gung, den »Kampf gegen rechts« zu ver­schär­fen. Das ist gut und rich­tig, wenn es bedeu­tet, Ter­ror und Gewalt mit allen rechts­staat­li­chen Mit­teln zu ver­hin­dern und extre­mis­ti­sche Bestre­bun­gen so klein zu hal­ten wie mög­lich. Doch sind die Stra­te­gien, die übli­cher­wei­se unter »Kampf gegen rechts« lau­fen, dazu geeig­net, die­se Anlie­gen vor­an­zu­brin­gen? Sind wir sicher, dass sie mehr nüt­zen als scha­den? Ich bezweif­le das und habe eher den Ein­druck, dass sie zu gro­ßen Tei­len nutz­los oder kon­tra­pro­duk­tiv sind.

Die gro­be Linie die­ser Ver­schär­fungs­stra­te­gie ist, den Spiel­raum für Dis­kus­sio­nen über Migra­ti­on, Inte­gra­ti­on und Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus wei­ter ein­zu­en­gen, dem Bevöl­ke­rungs­an­teil rechts der Mit­te mit neu­er Ent­schie­den­heit die demo­kra­ti­sche Par­ti­zi­pa­ti­on zu ver­wei­gern und noch nach­drück­li­cher die Durch­set­zung pro­gres­si­ver Gesell­schafts­idea­le zu betreiben. 

Ein­schrän­kun­gen der Mei­nungs­frei­heit gesche­hen um den Preis, dass Tei­le gesell­schaft­li­cher Wirk­lich­keit unre­flek­tiert blei­ben. So gab es in den letz­ten Mona­ten bei­spiels­wei­se Medi­en­be­rich­te über Clan­kri­mi­na­li­tät in Shi­sha-Bars. Die AfD hat das The­ma hier und da auf­ge­grif­fen. Was folgt nun kon­kret aus der Losung »aus Wor­te wer­den Taten« in die­sem Zusam­men­hang? Hät­ten die Medi­en nicht berich­ten sol­len? Hät­ten sie ver­schwei­gen sol­len, um wel­che Art von Gas­tro­no­mie­be­trieb und Kri­mi­na­li­tät es geht? Oder wird das The­ma erst falsch, wenn eine Par­tei es auf­greift? Das wäre im Rah­men einer par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie ein wider­sin­ni­ger Stand­punkt. Wenn Dis­kus­sio­nen nicht geführt wer­den, wer­den Pro­ble­me nicht gelöst. Man­che Pro­ble­me mögen von selbst wie­der ver­schwin­den, wenn man sie tot­schweigt, aber ande­re ver­schär­fen sich, und je mehr sie sich ver­schär­fen, des­to mehr Unter­drü­ckung der frei­en Mei­nungs­äu­ße­rung wird nötig.

Der zwei­te Punkt ist, der AfD und ihren Wäh­lern die demo­kra­ti­sche Par­ti­zi­pa­ti­on zu ver­wei­gern. Dies ist eine auf Dau­er gestell­te Ver­let­zung des unge­schrie­be­nen Ver­tra­ges zwi­schen Staat und Bür­gern. Es ist kei­ne Auf­kün­di­gung des Ver­tra­ges, denn die Betrof­fe­nen zah­len wei­ter Steu­ern und Rund­funk­ge­büh­ren und müs­sen den Staat mit sei­nen Geset­zen und Ent­schei­dun­gen immer noch respek­tie­ren. Sie wer­den par­ti­ell zu Unter­ta­nen gemacht, die zu fol­gen, aber nichts zu sagen haben. Dies scheint kaum geeig­net, sie wie­der mit dem Staat zu ver­söh­nen, da es sie selbst zum Opfer eines vom Staat aus­ge­hen­den Unrechts macht. Man­che sagen aus­drück­lich, hier gebe es auch nichts zu ver­söh­nen, das sei­en ein­fach Nazis/[alternatives Schimpf­wort ein­set­zen], die man aus­gren­zen müs­se. Auf die­sem Stand­punkt wird die Hef­tig­keit von Abnei­gungs­ge­füh­len zur Begrün­dung für anti­de­mo­kra­ti­sche und kon­tra­pro­duk­ti­ve Stra­te­gien. Mora­li­sie­rung macht blind für Kau­sa­li­tät.

All dies wird die Rech­te nicht schwä­chen, son­dern stär­ken, und nicht befrie­den, son­dern wei­ter empö­ren. Und je weni­ger die Rech­te ihre Ansich­ten und Inter­es­sen bei Tages­licht ver­tre­ten kann, des­to mehr wird sie es im Unter­grund tun (müs­sen), wo eher Übles entsteht.

Das progressive Projekt

Hanau steht chro­no­lo­gisch zwi­schen zwei poli­ti­schen Erd­be­ben mit Epi­zen­trum in Thü­rin­gen. Das ers­te war die Wahl des FDP-Poli­ti­kers Tho­mas Kem­me­rich mit AfD-Stim­men, der von der Lin­ken bis tief in die Mit­te hin­ein als »Damm­bruch« in Rich­tung einer Zusam­men­ar­beit mit der AfD gese­hen wur­de. Die Pres­se reagier­te schrill, Mer­kel auf ihre Art eben­falls, drau­ßen gab es Demons­tra­tio­nen, Dro­hun­gen und Van­da­lis­mus gegen Kem­me­rich sowie unbe­tei­lig­te FDP-Poli­ti­ker. Das Expe­ri­ment wur­de unter der Wucht des Gegen­drucks ein­ge­stampft. Dann, kurz nach Hanau, voll­zog sich ein Damm­bruch in die ande­re Rich­tung, indem die CDU sich ent­schied, Rame­low den Weg zur Minis­ter­prä­si­dent­schaft frei­zu­ma­chen. Kat­ja Kip­ping tri­um­phier­te, das Huf­ei­sen sei beer­digt, und sie hat­te nicht Unrecht. 

Die CDU koope­riert mit einer Par­tei, die sich zu ihrer kom­mu­nis­ti­schen Platt­form und wei­te­rer vom Ver­fas­sungs­schutz beob­ach­te­ter Grup­pie­run­gen bekennt. Auf der ande­ren Sei­te dürf­te es die AfD nach herr­schen­der Mei­nung eigent­lich gar nicht geben, und eini­ge wol­len sogar die »Wer­te­Uni­on« aus der CDU aus­schlie­ßen oder Publi­zis­ten wie Sar­ra­zin, Bro­der und Tichy unmög­lich machen. Dem­nach dürf­te es noch nicht ein­mal eine kon­ser­va­ti­ve Platt­form in der CDU oder kon­ser­va­tiv-libe­ra­le Nischen­me­di­en geben. Dies bedeu­tet prak­tisch einen Ver­such, in Deutsch­land den Kon­ser­va­tis­mus abzuschaffen.

Dies ist ohne­hin Flucht­punkt des pro­gres­si­ven Poli­tik- und Gesell­schafts­ver­ständ­nis­ses. Es ist deut­lich an Aus­drü­cken wie »gest­rig«, »rück­wärts­ge­wandt«, »ich dach­te, wir wären wei­ter« oder Tru­deaus »becau­se it’s 2016«. Immer liegt die Annah­me zugrun­de, dass in der Zukunft alle Men­schen pro­gres­siv sei­en. Und jetzt, da sich links ein Gefühl aus­brei­tet, das pro­gres­si­ve Pro­jekt könn­te schei­tern (Trump, Brexit) und die Nazis kämen zurück (Höcke), läuft die Zeit ab und die­se Zukunft muss so schnell wie mög­lich kommen.

Die­se Denk­wei­se ist im Sinn ihrer theo­re­ti­schen Prä­mis­sen fol­ge­rich­tig. Dies sind ers­tens die Blank-Sla­te-Theo­rie, zwei­tens eine Art nai­ver Rea­lis­mus auf der Lin­ken und drit­tens die Vor­stel­lung, dass rech­te Ein­stel­lun­gen sich durch Anste­ckung ver­brei­te­ten wie Krankheiten.

Die Blank-Sla­te-Theo­rie ist das Men­schen­bild des unbe­schrie­be­nen Blat­tes, das in den west­li­chen Gesell­schaf­ten seit Jahr­zehn­ten hege­mo­ni­al ist. Ihm zufol­ge kom­men Men­schen als im Wesent­li­chen iden­ti­sche Roh­lin­ge zur Welt, etwa wie Fest­plat­ten, denen im Zuge der Sozia­li­sa­ti­on eine kul­tur- und milieu­spe­zi­fi­sche Soft­ware auf­ge­spielt wird. Dar­auf beruht der cha­rak­te­ris­ti­sche pro­gres­si­ve Glau­be an die nahe­zu gren­zen­lo­se Form­bar­keit von Mensch und Gesell­schaft. Hier­zu ist das Stan­dard­werk »The Blank Slate/Das unbe­schrie­be­ne Blatt« von Ste­ven Pin­ker zu empfehlen. 

Mit nai­vem Rea­lis­mus mei­ne ich die für vie­le Lin­ke unhin­ter­geh­ba­re Auf­fas­sung, sie sähen die Welt ein­fach so, wie sie ist, sodass jeder, der die Welt eben­falls so sieht, wie sie ist, ihrer Mei­nung sein müs­se. Hier­her stammt die Ver­ach­tung, die Lin­ke oft für Nicht­lin­ke hegen – sie kön­nen sich deren abwei­chen­de Mei­nun­gen nur mit Dumm­heit oder Bös­ar­tig­keit erklären.

Sie­he dazu:

Die Anste­ckungs­theo­rie folgt dar­aus. Men­schen sind rechts, weil ihnen eine fal­sche Soft­ware auf­ge­spielt wur­de. Man muss ihnen statt­des­sen die rich­ti­ge Soft­ware auf­spie­len und die wei­te­re Ver­brei­tung der fal­schen ver­hin­dern. Natür­lich ist das nicht ganz falsch – Ideen ver­brei­ten sich durch Kom­mu­ni­ka­ti­on. Doch das geschieht nicht belie­big, son­dern inner­halb der Zwän­ge einer mate­ri­el­len Wirk­lich­keit. In Ver­bin­dung mit dem nai­ven Rea­lis­mus macht die Anste­ckungs­theo­rie es unmög­lich, zu ver­ste­hen, war­um sich man­che Ideen ver­brei­ten und ande­re nicht. Die Ant­wort ist, weil die­se Ideen in den Augen der Betref­fen­den gewis­sen Rea­li­tä­ten Rech­nung zu tra­gen schei­nen, die für sie von Bedeu­tung sind – genau wie lin­ke Ideen auf der lin­ken Sei­te. Will man die wei­te­re Aus­brei­tung von Ideen also ver­hin­dern, müss­te man alter­na­ti­ve Ideen anbie­ten, die die­sen Rea­li­tä­ten bes­ser Rech­nung tra­gen. Doch man­chen Rea­li­tä­ten will die Lin­ke nicht Rech­nung tra­gen. Sie will sie gar nicht sehen.

Hier stehe ich, ich kann nicht anders

Die­ser theo­re­ti­sche Drei­klang ver­kennt, dass rech­tes wie lin­kes Den­ken auf Dis­po­si­tio­nen beruht, die nicht abschaff­bar sind, und dass bei­de ihre begrün­den­den Rea­li­täts­be­zü­ge haben. Kon­ser­va­ti­ve sind nicht aus Jux und Dol­le­rei kon­ser­va­tiv, son­dern weil dies das Ergeb­nis ist, zu dem ihre Aus­ein­an­der­set­zung mit der Wirk­lich­keit sie geführt hat. Weil ihnen die Din­ge so zu sein scheinen.

Wir alle wis­sen im Prin­zip, dass wir uns irren kön­nen und unzäh­li­ge ande­re Men­schen die Din­ge anders sehen als wir selbst. Inso­fern wis­sen wir, dass die eige­ne Sicht nur eine Mög­lich­keit unter vie­len ist. Doch gleich­zei­tig kön­nen wir nicht aus unse­rer Haut. Wenn mir die Din­ge so erschei­nen, dann erschei­nen sie mir so. Es gibt kei­nen Schal­ter, den ich umle­gen könn­te, um das zu ändern. 

Ich kann ande­ren zuhö­ren, dis­ku­tie­ren und mich infor­mie­ren, und danach wer­den mir die Din­ge mehr oder weni­ger anders erschei­nen. Doch ich kann mir nicht aus­su­chen, von wel­chem Stand­punkt aus­ge­hend ich zuhö­re, dis­ku­tie­re und so wei­ter, und eben­falls nicht, wel­cher modi­fi­zier­te Stand­punkt dabei her­aus­kommt. Die Lek­tü­re eines »geg­ne­ri­schen« Buches kann dazu füh­ren, dass sich mei­ne Geg­ner­schaft ver­stärkt, weil ich den Inhalt unsin­nig und absto­ßend fin­de. (Ein wich­ti­ger Effekt, den die Anste­ckungs­theo­rie nicht abbil­det. Vie­le Mate­ria­li­en und Bot­schaf­ten »gegen rechts« sind so ver­fasst, dass sie garan­tiert nur Lin­ke ansprechen.) 

Ich habe die­se Vor­gän­ge nur begrenzt unter Kon­trol­le. Ich kann mich gezielt mit der Rea­li­tät und mit Kom­mu­ni­ka­ti­on kon­fron­tie­ren, aber ich kann mich nicht ein­fach wil­lent­lich zu einer ande­ren Mei­nung ent­schei­den. »Mei­ne Mei­nung« ist es nur, wenn es mir wahr erscheint, und was mir wahr erscheint, ist Fol­ge eines kom­ple­xen Inein­an­der­grei­fens von Ver­an­la­gung, Erfah­rung, Wis­sen, Wahr­neh­mung und Intui­ti­on im Ver­lauf mei­ner Biographie.

Was soll ich also damit anfan­gen, wenn mich jemand anbrüllt, mein Ver­ständ­nis der Rea­li­tät sei böse und falsch und müs­se von der Bild­flä­che ver­schwin­den? Ich hal­te mich nicht für böse; ich erklä­re ger­ne, wie sich mei­ne Auf­fas­sun­gen begrün­den; füh­re ger­ne aus, was das Gute ist, das ich anstre­be, und wel­ches Böse ich bekämpfe. 

Doch mein Gegen­über will das gar nicht wis­sen. Was ich auch sage, für ihn steht fest, dass ich böse und/oder ein Idi­ot bin und mit die­ser Auf­fas­sung eigent­lich nicht exis­tie­ren dürf­te. Wenn ich ihm ver­si­che­re, dass ich die fins­te­ren Absich­ten nicht hege, die er mir zuschreibt, beschul­digt er mich der Lüge. Wenn ich Bewei­se anfüh­re, behaup­tet er, sie sei­en mani­pu­liert und dien­ten nur zur Tar­nung mei­ner fins­te­ren Absich­ten. Mei­ne Argu­men­te greift er nicht als sol­che auf, um sie zu ent­kräf­ten, son­dern deu­tet sie als rhe­to­ri­sche Täu­schungs­ma­nö­ver. Wenn ich mich über die unfai­re Dis­kus­si­ons­füh­rung beschwe­re, heißt es, ich wür­de mich als Opfer insze­nie­ren und das sei ein wei­te­rer fau­ler Trick von mir. Unter Andro­hung von Gefäng­nis­stra­fen muss ich unter­des­sen jeden Monat einen erheb­li­chen Teil mei­nes Ein­kom­mens abge­ben, um Leu­te zu finan­zie­ren, die mir die­se Behand­lung ange­dei­hen lassen.

Gleich­zei­tig höre ich die Argu­men­te der Gegen­sei­te und muss fest­stel­len, dass sie mich nicht über­zeu­gen. Ich höre sie nicht zum ers­ten Mal; sie sind ja über­all und wer­den nach­drück­lich als die ein­zig wah­re, ein­zig gute Posi­ti­on prä­sen­tiert. Ich habe daher oft und lan­ge über sie nach­ge­dacht und kom­me immer wie­der zu dem Ergeb­nis, dass ich sie für selbst­wi­der­sprüch­lich, rea­li­täts­fern und unin­for­miert halte.

Was mache ich nun in die­ser Situa­ti­on? Ich könn­te mich aus dem öffent­li­chen Leben zurück­zu­zie­hen, um mei­ne Ruhe zu haben. Doch die Ruhe wäre nur äußer­lich, denn mir liegt etwas an mei­ner Fami­lie, mei­nen Freun­den, mei­nem Land, der west­li­chen Zivi­li­sa­ti­on und den Men­schen im All­ge­mei­nen. Ich sehe, wie die­je­ni­gen das öffent­li­che Leben bestim­men, deren Rea­li­täts­deu­tung ich für selbst­wi­der­sprüch­lich, rea­li­täts­fern und unin­for­miert hal­te. Mei­ner Ein­schät­zung nach ver­ur­sa­chen sie mit ihrem halb blin­den Han­deln erns­ten Scha­den, und ich fürch­te, dass die Situa­ti­on irgend­wann kip­pen und in etwas wirk­lich Schlim­mes mün­den könnte.

Wer wür­de sich dem­ge­gen­über pas­siv zurück­zu­zie­hen? Das wäre zynisch, nihi­lis­tisch, eine Selbst­auf­ga­be. Es wäre auch ver­ant­wor­tungs­los. Es hie­ße, sich auf ein Leben des Den-Mund-Hal­tens wider bes­se­res Wis­sen ein­zu­stel­len. Man kann nicht erwar­ten, dass dies regel­mä­ßig die Reak­ti­on der Betrof­fe­nen sein wird. Und wenn sie es wäre, wür­de man damit nicht lau­ter auf­rech­te Demo­kra­ten gewin­nen, son­dern Mil­lio­nen aus­ge­schlos­se­ne Zyni­ker, die die Demo­kra­tie auf­ge­ge­ben haben. Man soll­te sich das gut überlegen.

Das Notwehr-Argument

Hier liegt der Ein­wand nahe, die AfD-Wäh­ler hät­ten die Demo­kra­tie bereits auf­ge­ge­ben, sei­en bereits ver­lo­ren, so dass ihre Aus­gren­zung kei­nen zusätz­li­chen Scha­den ver­ur­sa­che, aber zusätz­li­chen Scha­den ver­hin­de­re. Und natür­lich sei es nicht ide­al, in einer Demo­kra­tie Wäh­ler und gewähl­te Abge­ord­ne­te aus­zu­schlie­ßen, aber es gel­te ein neu­es 1933 zu ver­hin­dern. Der Aus­schluss sei gewis­ser­ma­ßen Notwehr.

Abschlie­ßend ein prü­fen­der Blick auf die­se bei­den The­sen: Dass die heu­ti­ge Situa­ti­on gefähr­li­che Ähn­lich­keit mit der­je­ni­gen von 1933 hät­te und dass AfD-Wäh­ler für die Demo­kra­tie ver­lo­ren seien.

Als Hit­ler zur Macht kam, war die jun­ge Demo­kra­tie der Wei­ma­rer Repu­blik bereits zer­rüt­tet. Dies scheint klar und in der Geschichts­schrei­bung Kon­sens zu sein. Sebas­ti­an Haff­ner schreibt in »Anmer­kun­gen zu Hitler«:

… Es ist also ein Irr­tum, wenn auch ein weit­ver­brei­te­ter, dass erst Hit­lers Ansturm die Wei­ma­rer Repu­blik zu Fall gebracht hät­te. Sie war bereits im Fal­len, als Hit­ler ernst­haft die Sze­ne betrat, und bei den innen­po­li­ti­schen Kämp­fen der Jah­re 1930–1934 ging es in Wirk­lich­keit nicht mehr um die Ver­tei­di­gung der Repu­blik, son­dern nur noch um ihre Nach­fol­ge. Die ein­zi­ge Fra­ge war, ob die bereits auf­ge­ge­be­ne Repu­blik durch eine kon­ser­va­ti­ve – in letz­ter Kon­se­quenz wohl mon­ar­chis­ti­sche – Restau­ra­ti­on abge­löst wer­den soll­te oder eben durch Hitler. …

Die Wei­ma­rer Repu­blik ist nicht durch Wirt­schafts­kri­se und Arbeits­lo­sig­keit zer­stört wor­den, obwohl sie natür­lich zur Unter­gangs­stim­mung bei­getra­gen haben, son­dern durch die schon vor­her ein­set­zen­de Ent­schlos­sen­heit der Wei­ma­rer Rech­ten, den par­la­men­ta­ri­schen Staat zuguns­ten eines unklar kon­zi­pier­ten auto­ri­tä­ren Staats abzu­schaf­fen. Sie ist auch nicht durch Hit­ler zer­stört wor­den: Er fand sie schon zer­stört vor, als er Reichs­kanz­ler wur­de, und er ent­mach­te­te nur die, die sie zer­stört hatten.

»Die Wei­ma­rer Rech­ten« schließt hier die Kon­ser­va­ti­ven ein. Das heißt, eine Ableh­nung der Demo­kra­tie war Main­stream, wäh­rend gro­ße Tei­le der Lin­ken revo­lu­tio­när aus­ge­rich­tet waren und der Libe­ra­lis­mus auch in ande­ren Län­dern in der Kri­se steck­te und unter Beschuss stand.

Heu­te dage­gen ver­fü­gen wir über sta­bi­le und aus­dif­fe­ren­zier­te Staats­in­sti­tu­tio­nen, die von kaum jeman­dem ernst­haft in Fra­ge gestellt wer­den. Gibt es in den AfD-Rei­hen Stim­men, die das demo­kra­ti­sche Sys­tem selbst in Fra­ge stel­len? Im Umkreis des rech­ten Flü­gels gibt es das ver­mut­lich; jeden­falls Sym­pa­thien für Den­ker und Gedan­ken­gut, die nicht ohne Wei­te­res mit einer frei­heit­li­chen Demo­kra­tie kom­pa­ti­bel sind. Die gibt es auch auf der Lin­ken. Wir soll­ten dies auch im Blick behal­ten und hell­hö­rig sein, wann immer etwas dazu gedacht oder geeig­net scheint, die demo­kra­ti­schen Insti­tu­tio­nen zu destabilisieren.

Doch die Auf­fas­sung, dass die AfD als Gan­ze eine anti­par­la­men­ta­ri­sche oder anti­de­mo­kra­ti­sche Kraft sei, scheint mir empi­risch nicht gedeckt. Das Par­tei­pro­gramm und die aller­meis­ten öffent­li­chen Äuße­run­gen aus der Par­tei las­sen das nicht erken­nen. Und wenn dies täu­schen soll­te, unter­mau­ert genau die Tat­sa­che, dass hier eine Täu­schung not­wen­dig ist, mei­nen Punkt: Eine Ableh­nung der par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie der Bun­des­re­pu­blik ist nicht mehr­heits­fä­hig, weder im Par­tei­en­sys­tem noch in der wei­te­ren Öffent­lich­keit. Von weni­gen Akteu­ren an den extre­men Rän­dern abge­se­hen hat nie­mand Inter­es­se an auto­ri­tä­ren Experimenten.

Dazu zwei Mei­nungs­bil­der von der zurück­lie­gen­den Bundestagswahl.

86 Pro­zent der Gesamt­be­völ­ke­rung mei­nen, dass die AfD sich nicht genug von rechts­extre­men Posi­tio­nen abgren­ze – und mehr als die Hälf­te der AfD-Wäh­ler mei­nen das eben­falls. Sie wäh­len sie trotz­dem. War­um? Die Gra­fik beant­wor­tet die Fra­ge. Weil sie eine Ver­än­de­rung der Migra­ti­ons­po­li­tik wol­len. Die­se Posi­ti­on wie­der­um tei­len 35 Pro­zent der Gesamt­be­völ­ke­rung (ers­te Gra­fik), eine Grup­pe, die mehr­heit­lich nicht AfD wählt.

Selbst wenn man sich also auf den extre­men Stand­punkt stellt, die AfD sei eine rei­ne Nazi­par­tei, muss man fest­stel­len, dass es für den »Nazia­spekt« kaum Zuspruch gibt. Die Par­tei muss ihre rechts­extre­men Ten­den­zen abstrei­ten und kaschie­ren und wird von den meis­ten trotz, nicht wegen die­ser Ten­den­zen gewählt.

Die AfD hat meh­re­re Allein­stel­lungs­merk­ma­le: vor allem die restrik­ti­ve Zuwan­de­rungs­po­li­tik, aber auch die EU-Skep­sis, eine eher kon­ser­va­ti­ve Fami­li­en- und Geschlech­ter­po­li­tik und ande­re. Den­noch kommt sie nur auf 14 Pro­zent, wäh­rend mehr als die Hälf­te ihrer Wäh­ler auf­grund man­geln­der Abgren­zung nach rechts ein schlech­tes Gefühl haben, also lie­ber eine ande­re Par­tei wäh­len wür­den, wenn sie die­se Anlie­gen dort wiederfänden.

Kurz: Nie­mand will Nazis an der Macht sehen. Die Par­la­men­ta­ri­er nicht und die über­wäl­ti­gen­de Mehr­heit der Wäh­ler eben­falls nicht. Was die Letz­te­ren wol­len, sofern sie AfD-Affi­ni­tä­ten haben, ist in ers­ter Linie, dass die Pro­ble­me der Migra­ti­on ernst­ge­nom­men wer­den. Wer Extre­mis­mus bekämp­fen will, soll­te das tun – oder sich etwas Mühe geben, die Öffent­lich­keit davon zu über­zeu­gen, dass die Pro­ble­me hand­hab­bar sind und/oder die Vor­tei­le über­wie­gen. Das Ver­schwei­gen, die Ein­schüch­te­rung, das Über­le­gen­heits­geh­abe und das Ein­lul­len mit poli­tisch kor­rek­ten Sprach­re­ge­lun­gen – das ist nicht überzeugend.

Es ist kein Wun­der, dass Hanau der AfD nicht scha­det, da sich an den Anlie­gen ihrer Wäh­ler nichts geän­dert hat. Die Mul­ti­kul­tu­ra­lis­ten haben sich nach dem Ter­ror­an­schlag am Ber­li­ner Breit­scheid­platz auch nicht plötz­lich gegen Ein­wan­de­rung gestellt. Eine sol­che 180-Grad-Wen­de ist hier wie dort nicht zu erwar­ten, da der Schock einer außer­ge­wöhn­li­chen Gewalt­tat nichts an der Gesamt­dia­gno­se ändert, die in einem Lager vorherrscht.

Für Lin­ke ver­kör­pert der rück­wärts­ge­wand­te, anti­li­be­ra­le, auto­ri­tä­re und natio­na­lis­ti­sche Gesell­schafts­ent­wurf der Rech­ten das ulti­ma­ti­ve Zer­stö­rungs­po­ten­zi­al. Für Rech­te ver­kör­pern der Ver­lust sozia­ler Kohä­si­on und die Kon­flikt­haf­tig­keit, die sie im Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus sehen, das ulti­ma­ti­ve Zer­stö­rungs­po­ten­zi­al. Und für Men­schen, die mei­nen, eine ulti­ma­ti­ve Gesell­schafts­zer­stö­rung abwen­den zu müs­sen, sind ein­zel­ne Gewalt­ta­ten kein Grund zum Kurs­wech­sel, so schreck­lich sie auch sind, denn in ihrem Selbst­ver­ständ­nis geht es ihnen immer dar­um, noch Schlim­me­res zu ver­hin­dern. Das ist logisch und impli­ziert auf kei­ner Sei­te Gleich­gül­tig­keit gegen­über den Opfern.

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