Jung, woke, depressiv: Die psychologische Krise der Linken

Die­ser Text ist ursprüng­lich bei »Der Sand­wirt« erschie­nen. Ich habe das The­ma außer­dem in zwei Vide­os vertieft:


War­um haben die Woken eigent­lich immer bes­se­re Lau­ne als die Anti-Woken?“, erkun­dig­te sich Geor­gi­ne Kel­ler­mann (WDR) vor ein paar Wochen auf Twit­ter. Die Fra­ge über­rascht, wenn man den Zorn der berüch­tig­ten Twit­ter-Mobs, das zwang­haf­te Dau­er­pro­ble­ma­ti­sie­ren von allem und jedem und die für Tik­Tok mit­ge­film­ten Ner­ven­zu­sam­men­brü­che kennt, die für die­ses Milieu cha­rak­te­ris­tisch sind.

Anders aus­ge­drückt: Sie haben mit an Sicher­heit gren­zen­der Wahr­schein­lich­keit kei­ne bes­se­re Lau­ne, von „immer“ ganz zu schwei­gen. Zahl­rei­che Stu­di­en bele­gen, dass Kon­ser­va­ti­ve fast über­all auf der Welt mit ihrem Leben zufrie­de­ner sind als Lin­ke, wäh­rend Letz­te­re häu­fi­ger von Depres­sio­nen, Ängs­ten und psy­chi­scher Krank­heit geplagt sind. Hin­zu kommt als aku­ter Befund, dass seit etwa 2012 die psy­chi­sche Gesund­heit der jun­gen Gene­ra­ti­on abstürzt. Davon sind Mäd­chen und Frau­en stär­ker betrof­fen als Jun­gen und Män­ner, Wei­ße stär­ker als Dun­kel­häu­ti­ge – und mit Abstand Lin­ke stär­ker als Konservative.

Mehr als 50 Pro­zent der 18- bis 29-jäh­ri­gen lin­ken Frau­en in den USA gaben 2020 bei­spiels­wei­se an, schon ein­mal mit einem psy­chi­schen Lei­den dia­gnos­ti­ziert wor­den zu sein. Bei den lin­ken Män­nern die­ser Alters­grup­pe waren es knapp über 30 Pro­zent. Die ent­spre­chen­den Zah­len im kon­ser­va­ti­ven Lager: rund 20 und knapp 14 Prozent.

Gra­fik: Jona­than Haidt mit Daten von Pew Research

Konservative sind zufriedener

Im März bot der Sozio­lo­ge Musa Al-Ghar­bi in sei­nem Essay „How to under­stand the well­be­ing gap bet­ween libe­rals and con­ser­va­ti­ves“ einen quel­len­rei­chen Über­blick die­ser wach­sen­den Wohl­be­fin­dens-Lücke zwi­schen Lin­ken und Kon­ser­va­ti­ven. Al-Ghar­bi ist wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter der Hete­ro­dox Aca­de­my, einer von dem renom­mier­ten Psy­cho­lo­gen Jona­than Haidt gegrün­de­ten Orga­ni­sa­ti­on, die sich für mehr Per­spek­ti­ven­viel­falt an den weit­ge­hend mono­ton lin­ken US-Uni­ver­si­tä­ten einsetzt. 

Es gibt dem­zu­fol­ge kei­ne glas­kla­re Ant­wort auf die Fra­ge, war­um Kon­ser­va­ti­ve zufrie­de­ner sind – auch nicht hin­sicht­lich der Kau­sa­li­tät. Sind sie kon­ser­va­tiv, weil sie zufrie­de­ner sind, oder umge­kehrt? Ver­mut­lich gibt es Wir­kun­gen in bei­de Rich­tun­gen. Stu­di­en zei­gen bei­spiels­wei­se, dass gesun­de Kin­der eher kon­ser­va­tiv wer­den und sol­che, die Anpas­sungs­schwie­rig­kei­ten oder Miss­brauch erle­ben, eher links. Doch lin­ke und kon­ser­va­ti­ve Ein­stel­lun­gen kor­re­lie­ren auch mit Tem­pe­ra­men­ten, die zum Teil ange­bo­ren sind.

Von lin­kem Stand­punkt aus ist eine Deu­tung ver­lo­ckend, die kon­ser­va­ti­ve Ein­stel­lun­gen auf eine pri­vi­le­gier­te sozia­le Posi­ti­on zurück­führt, nach dem Mot­to: Der Sta­tus Quo war gut zu mir, also will ich, dass er so bleibt. Doch das passt nicht zu den ver­füg­ba­ren Daten. In den USA und anders­wo sind bei­spiels­wei­se Ein­wan­de­rer viel­fach kon­ser­va­ti­ver als die Ange­hö­ri­gen der Mehr­heits­ge­sell­schaft, aber ihnen gegen­über kaum pri­vi­le­giert. Auch ärme­re Men­schen sind oft kon­ser­va­tiv und in die­sem Fall zufrie­de­ner als Lin­ke in glei­cher Stel­lung. Und vor allem sind heu­te die Pri­vi­le­gier­ten weit über­wie­gend links, nicht konservativ.

Al-Ghar­bi weist dar­auf hin, dass Kon­ser­va­ti­ve häu­fi­ger reli­gi­ös, patrio­tisch und ver­hei­ra­tet sind – drei Fak­to­ren, die jeder für sich mit einem Plus an Lebens­zu­frie­den­heit ein­her­ge­hen. Doch auch wenn man sie her­aus­rech­net, blei­ben die Kon­ser­va­ti­ven im Vor­teil. Die kon­ser­va­ti­ve Ein­stel­lung, so Al-Ghar­bi, scheint Men­schen ein men­ta­les Rüst­zeug mit­zu­ge­ben, das ihnen hilft, resi­li­ent und kon­struk­tiv mit Unge­rech­tig­keit und Unglück umzugehen. 

Lin­ke lei­den dem­ge­gen­über womög­lich an „mora­li­schem Stress“. Sie kon­zen­trie­ren Sor­ge und Mit­ge­fühl weni­ger auf das eige­ne Umfeld und mehr auf die Fer­ne und rela­tiv abs­trak­te Grö­ßen wie die Mensch­heit oder das Leben als sol­ches. In die­sen Dimen­sio­nen kann man weni­ger bewir­ken und wird vom Aus­maß der Pro­ble­me immer über­wäl­tigt sein.

Doch war­um wächst die Wohl­be­fin­dens-Lücke neu­er­dings so stark an, und war­um sind davon weit über­pro­por­tio­nal Frau­en betroffen?

Drei Ursachen der psychologischen Krise

Der oben erwähn­te Jona­than Haidt weist schon län­ger auf die Kri­se der psy­chi­schen Gesund­heit der jun­gen Gene­ra­ti­on hin. Dar­um ging es etwa in sei­nem mit Greg Luki­an­off ver­fass­ten Essay „The Coddling of the Ame­ri­can Mind“ von 2015 und dem gleich­na­mi­gen Buch von 2018. Aktu­ell geht er dem Pro­blem mit einer Arti­kel­rei­he auf Sub­stack wei­ter nach, wo er auch zeigt, dass die Ent­wick­lung nicht auf die USA beschränkt ist. Unter den Haupt­ur­sa­chen, die Haidt für die­se beun­ru­hi­gen­de Ent­wick­lung ver­ant­wort­lich macht, sind: eine über­be­hü­ten­de Kin­der­er­zie­hung seit etwa 1990, Social Media und: Wokeness.

Schon frü­he­re Stu­den­ten­ge­nera­tio­nen haben gegen Auf­trit­te kon­tro­ver­ser Red­ner pro­tes­tiert, stellt Haidt fest. Neu sei aber, dass sie die­se Red­ner oder deren Wor­te als Bedro­hung ihrer „Sicher­heit“ dar­stell­ten, vor der sie beschützt wer­den müss­ten. Über­be­hü­ten­de Erzie­hung mit zu wenig unbe­auf­sich­tig­ter Zeit habe dazu geführt, dass die psy­chi­sche Auto­no­mie und Resi­li­enz der jun­gen Erwach­se­nen unter­ent­wi­ckelt sei und die­se des­halb wei­ter­hin eine Dau­er­be­auf­sich­ti­gung ein­for­der­ten. Das ent­spricht dem Befund, dass es pri­mär die Stu­den­ten selbst sind, die gegen die Mei­nungs- und Wis­sen­schafts­frei­heit an den US-Uni­ver­si­tä­ten zu Fel­de ziehen. 

Die zwei­te Ursa­che ist die Aus­brei­tung von Smart­phones und Social Media. Sozia­le Bezie­hun­gen zu Gleich­alt­ri­gen sind für die Rei­fung jun­ger Men­schen ele­men­tar wich­tig. Es hat psy­chi­sche Fol­gen, wenn man sie weit­ge­hend ins Öffent­li­che und Vir­tu­el­le ver­la­gert und der Logik sozia­ler Netz­wer­ke unter­wirft. Hier liegt wahr­schein­lich der Grund für die stär­ke­re Betrof­fen­heit der Mäd­chen, denn die sind deut­lich mehr in sozia­len Medi­en unter­wegs als die Jun­gen – und die Lin­ken wie­der­um mehr als die Kon­ser­va­ti­ven. Dem­entspre­chend haben die rea­len Kon­tak­te bei den lin­ken jun­gen Frau­en auch am stärks­ten abgenommen.

Umgekehrte kognitive Verhaltenstherapie

Die drit­te Ursa­che: Woke­ness. Das Pro­blem ist für Haidt nicht nur, dass sozia­le Medi­en ein unge­eig­ne­ter Ersatz für ech­te Gesel­lig­keit und Freund­schaft sind. Hin­zu kommt, dass die dort zir­ku­lie­ren­den Inhal­te und Ideen selbst schäd­lich sein können.

Eine Kern­the­se von „The Coddling of the Ame­ri­can Mind“ ist, dass Woke­ness in Theo­rie und Pra­xis eine umge­kehr­te kogni­ti­ve Ver­hal­tens­the­ra­pie dar­stellt. Dar­auf war zuerst Haidts Ko-Autor Greg Luki­an­off gesto­ßen, der sich als Rechts­an­walt für Mei­nungs­frei­heit an Uni­ver­si­tä­ten ein­setzt und die Ent­wick­lun­gen dort genau beob­ach­tet. Er lei­det außer­dem an Depres­sio­nen und hat gelernt, die­se mit kogni­ti­ver Ver­hal­tens­the­ra­pie in Schach zu hal­ten. So fiel ihm eines Tages auf, dass die Uni­ver­si­tä­ten das genaue Gegen­teil die­ser aner­kannt effek­ti­ven The­ra­pie­form lehrten.

Bei der kogni­ti­ven Ver­hal­tens­the­ra­pie geht es dar­um, einen kri­ti­schen Blick auf die eige­nen Denk­mus­ter zu wer­fen. Depres­si­ve nei­gen zu soge­nann­ten kogni­ti­ven Ver­zer­run­gen, im Wesent­li­chen ver­schie­de­ne For­men von Schwarz­ma­le­rei, die die eige­ne Lage düs­te­rer und aus­sichts­lo­ser erschei­nen las­sen, als eine nüch­ter­ne Inter­pre­ta­ti­on der Situa­ti­on her­gibt. Dazu gehö­ren etwa Kata­stro­phi­sie­ren, Schwarz­weiß­den­ken, Hell­se­he­rei oder emo­tio­na­les Schluss­fol­gern. Die­se Ver­zer­run­gen sind Aus­druck depres­si­ver Ten­den­zen, kön­nen aber auch gelernt wer­den und depres­si­ve Zustän­de ver­ur­sa­chen

Drei große Unwahrheiten

Wenn nun Stu­den­ten mei­nen, der Auf­tritt eines kon­ser­va­ti­ven Red­ners wer­de „Scha­den“ ver­ur­sa­chen oder „ver­let­zend“ oder „trau­ma­ti­sie­rend“ sein, ist das ein Kata­stro­phi­sie­ren in die­sem Sinn. Wenn sie ihre emo­tio­na­le Erre­gung als Beweis für die Gefähr­lich­keit des Red­ners neh­men, ist das emo­tio­na­les Schluss­fol­gern. Wenn sie sich als Gute im ewi­gen Kampf gegen das Böse begrei­fen, ist das Schwarz­weiß­den­ken und, sofern sie dem Red­ner und sei­nem Publi­kum aller­lei böse Absich­ten andich­ten, auch Hell­se­he­rei in Form von Gedankenlesen.

Die phi­lo­so­phi­sche Grund­la­ge für die­se Denk­wei­sen sind laut „The Coddling of the Ame­ri­can Mind“ drei „gro­ße Unwahr­hei­ten“, die den Stu­den­ten neu­er­dings ver­mit­telt wer­den: „Was dich nicht umbringt, macht dich schwä­cher“ (die Unwahr­heit der Fra­gi­li­tät), „Ver­traue immer dei­nen Gefüh­len“ (die Unwahr­heit des emo­tio­na­len Schluss­fol­gerns) und „Das Leben ist eine Schlacht zwi­schen guten Men­schen und bösen Men­schen“ (die Unwahr­heit des Wir-gegen-Die). 

Eine bit­te­re Fuß­no­te: Haidts ers­tes Buch „Die Glücks­hy­po­the­se“ kon­fron­tiert anti­ke Weis­heit mit moder­ner Psy­cho­lo­gie, um her­aus­zu­fin­den, wel­che Wege am ehes­ten zum Glück füh­ren. Die drei gro­ßen Unwahr­hei­ten der Woke­ness sind direk­te Umkeh­run­gen der dabei iden­ti­fi­zier­ten Wege zum Glück.

Kein richtiges Leben im falschen

Wenn man sich klar­macht, wie Woke­ness die Welt inter­pre­tiert, erscheint es unaus­weich­lich, dass sie zu Depres­sio­nen und Ängs­ten führt. Sie prä­sen­tiert die Gesell­schaft als unmensch­li­ches, über­mäch­ti­ges Unter­drü­ckungs­sys­tem, dem die Ein­zel­nen in ihrem gan­zen Sein unter­wor­fen sind. Ein men­schen­wür­di­ges Leben ist dem­nach erst in der Uto­pie mög­lich, jenem nicht näher beschreib­ba­ren Zustand, der auf die Über­win­dung des weiß-supre­ma­tis­ti­schen kapi­ta­lis­ti­schen Patri­ar­chats folgt.

In einer Psy­cho­the­ra­pie geht es dar­um, Lei­den und Pro­ble­me klar begriff­lich zu fas­sen und in Teil­pro­ble­me auf­zu­glie­dern, die man durch prak­ti­sche Schrit­te sys­te­ma­tisch ange­hen kann. In der Woke­ness wer­den im Gegen­teil alle Lei­den und Pro­ble­me begriff­lich so gefasst, dass sie mög­lichst groß und ver­wi­ckelt und schlech­ter­dings unlös­bar erschei­nen. Sie sind alle Nie­der­schlag des Wir­kens der gro­ßen Unter­drü­ckungs­sys­te­me, ein Wir­ken, das so all­ge­gen­wär­tig und heim­tü­ckisch ist, dass man es immer noch gar nicht voll über­blickt, selbst wenn man sich täg­lich damit beschäftigt.

Gemäß Inter­sek­tio­na­li­täts­theo­rie gibt es vie­le Ach­sen der Unter­drü­ckung – Geschlecht, Haut­far­be, sexu­el­le Ori­en­tie­rung und so wei­ter. Das heißt, dass prak­tisch jeder auf viel­fäl­ti­ge Wei­se Opfer und auf viel­fäl­ti­ge Wei­se pri­vi­le­gier­ter Unter­drü­cker und Täter ist. Und dies sind die ent­schei­den­den Merk­ma­le der indi­vi­du­el­len Iden­ti­tät, auf die es sich zu kon­zen­trie­ren gilt. Wenn jemand behaup­tet, nicht von die­sen Täter- und Opfer­rol­len deter­mi­niert zu sein, wird das von Woke­mon als fal­sches Bewusst­sein, Aus­druck von Pri­vi­le­gi­en­blind­heit etc. abge­schmet­tert. Die Täter- und Opfer­rol­len müs­sen jeder­zeit ver­ge­gen­wär­tigt wer­den. Ein guter Ansatz, wenn man unglück­lich und irre wer­den möchte.

Im Safe Space der Fantasie-Identitäten

Die­se Ethik ver­brei­te­te sich rasant auch in sozia­len Medi­en, als sie popu­lär wur­den, vor allem von dem berüch­tig­ten Tumb­lr aus­ge­hend, das Haidt als „Petri­scha­le demo­ra­li­sie­ren­der Über­zeu­gun­gen“ bezeich­net. Tumb­lr, eine Art Kreu­zung aus Blog­platt­form und sozia­lem Netz­werk, war zu sei­ner Blü­te­zeit um 2014 das Epi­zen­trum der „Schneeflocken“-Kultur mit ihrer Viel­falt an sorg­sam gehü­te­ten Gender‑, Tier‑, Fabel­we­sen- und sons­ti­gen Fan­ta­sie-Iden­ti­tä­ten. Hier stell­ten sich Jugend­li­che, vor allem Mäd­chen, wie am Selbst­be­die­nungs­buf­fet eine indi­vi­du­el­le Iden­ti­tät zusam­men, die von Gleich­ge­sinn­ten dort gefei­ert und respek­tiert wur­de, aber außer­halb des Tumb­lr-Zir­kels, wenig über­ra­schend, kaum Gül­tig­keit besaß.

Die­ser Zir­kel war der klei­ne, begrenz­te, kost­ba­re Safe Space, in dem man sich eini­ger­ma­ßen wohl und sicher füh­len konn­te, der aber immer pre­kär und bedroht blieb, weil die Außen­welt sei­ne Fan­ta­sie­ge­bil­de nicht akzep­tier­te. Das pass­te per­fekt zu der woke-lin­ken Leh­re von der Gesell­schaft als einer unmensch­li­chen Unter­drü­ckungs­ma­schi­ne­rie, die kein authen­ti­sches Leben zulässt. Sie macht ja den Safe Space erst nötig. Jede emo­tio­na­le Ver­let­zung, die man auf­grund von Nicht­ach­tung sei­ner pre­kä­ren Fan­ta­sie-Iden­ti­tät erlitt, war Beweis für den unter­drü­cke­ri­schen Cha­rak­ter der Gesell­schaft. Wohl­be­fin­den war nur in künst­lich her­ge­stell­ten und ver­tei­dig­ten, eng begrenz­ten Räu­men von Gleich­ge­sinn­ten mög­lich, in denen kein Wider­spruch gedul­det wur­de. Außer­halb war­te­ten Unter­drü­ckung, Gewalt und Trauma.

Die Konterrevolution ist in der Triebstruktur verankert“

Der Woke­ness­auf­klä­rer James Lind­say, der in den Jah­ren 2017–18 eini­gen Zeit­schrif­ten der „kri­ti­schen“ Dis­zi­pli­nen absur­de Fake-Stu­di­en ange­dreht hat – Stich­wort „Sokal Squared“ – und seit­dem in aus­führ­li­chen, um nicht zu sagen end­lo­sen Pod­casts lin­ke Theo­rie­schrif­ten aus­ein­an­der­nimmt, hat ein­mal ange­merkt, dass wir in der Welt Her­bert Mar­cu­ses leben. Man bekommt einen Ein­druck davon, was er meint, wenn man sich vor dem Hin­ter­grund der oben beschrie­be­nen Ent­wick­lung Mar­cu­ses „Ver­such über die Befrei­ung“ von 1969 anschaut, ins­be­son­de­re den ers­ten Abschnitt mit dem gru­se­li­gen Titel „Eine ‚bio­lo­gi­sche‘ Grund­la­ge des Sozialismus?“

Mar­cu­se, pro­mi­nen­ter Ver­tre­ter der zwei­ten Gene­ra­ti­on der Frank­fur­ter Schu­le und mil­lio­nen­fach gele­se­ner Vor­den­ker der Stu­den­ten­re­vol­te, ringt dar­in mit einem Kern­pro­blem der radi­ka­len Lin­ken im 20. Jahr­hun­dert. Die Arbei­ter waren nicht ver­elen­det und die von Marx vor­her­ge­sag­te Revo­lu­ti­on war aus­ge­fal­len. Statt­des­sen hat­ten Kapi­ta­lis­mus und Sozi­al­staat Mas­sen­wohl­stand gebracht. Die Bevöl­ke­rungs­mehr­heit fühl­te sich weder beson­ders unter­drückt, noch fand sie die Ver­spre­chun­gen der Radi­ka­len über­zeu­gend, eine Rebel­li­on gegen die Ver­hält­nis­se wer­de zum Para­dies auf Erden füh­ren. Was nun?

Mar­cu­se stellt fest, dass der moder­ne Kapi­ta­lis­mus gut dar­in sei, Bedürf­nis­se zu befrie­di­gen, sodass die Men­schen in ihm rela­tiv zufrie­den sei­en. Doch die­se Bedürf­nis­se sei­en nicht die wah­ren und ihre Befrie­di­gung hal­te die Men­schen in Unfrei­heit. „Die von die­sem Sys­tem geschaf­fe­nen Bedürf­nis­se sind des­halb sta­bi­li­sie­ren­de, kon­ser­va­ti­ve Bedürf­nis­se: die Kon­ter­re­vo­lu­ti­on ist in der Trieb­struk­tur verankert.“

Befreiung durch Unfähigkeit zur Anpassung

Also rei­che es nicht mehr hin, wie Marx zu for­dern, jeder sol­le „nach sei­nen Bedürf­nis­sen leben“ kön­nen. Viel­mehr muss man fol­ge­rich­tig die „Trieb­struk­tur“ ver­än­dern, um die Revo­lu­ti­on auf den Weg zu brin­gen. „Jetzt geht es um die Bedürf­nis­se selbst“. Ist es mög­lich, eine qua­li­ta­ti­ve Ver­än­de­rung in den Bedürf­nis­sen her­bei­zu­füh­ren, in deren Fol­ge dann die Men­schen das Reich der Frei­heit um sich her­um errich­ten, statt kon­ser­va­tiv-kon­ter­re­vo­lu­tio­när vor sich hin zu kon­su­mie­ren wie bisher?

Mar­cu­se: „Eine sol­che Ver­än­de­rung wäre die ‚trieb­mä­ßi­ge‘ Basis für die wäh­rend der lan­gen Geschich­te der Klas­sen­ge­sell­schaft blo­ckier­te Frei­heit. Die­se ent­stün­de als Umge­bung eines Orga­nis­mus, der nicht mehr imstan­de ist, sich den kon­kur­rie­ren­den Leis­tun­gen anzu­pas­sen, wie Wohl­erge­hen unter Herr­schaft sie ver­langt; der die Aggres­si­vi­tät, Bru­ta­li­tät und Häss­lich­keit der eta­blier­ten Lebens­wei­se nicht län­ger zu ertra­gen vermag.“

Trei­ben­de Kraft der Befrei­ung soll also ein „Orga­nis­mus“ sein, der nicht mehr imstan­de ist, unter den gege­be­nen Ver­hält­nis­sen zu leben; der sie nicht län­ger zu ertra­gen ver­mag. Sol­che „Orga­nis­men“ gibt es nun dank flä­chen­de­cken­dem Ein­satz umge­kehr­ter kogni­ti­ver Ver­hal­tens­the­ra­pie tat­säch­lich immer mehr. Und weil sie es nur noch auf Tumb­lr aus­hal­ten, wol­len sie die gan­ze Welt zu Tumb­lr machen.

Wer baut die bessere Welt?

Um die Par­al­le­le zwi­schen Mar­cu­ses Ideen und der tat­säch­li­chen Ent­wick­lung zu sehen, muss man nicht anneh­men, dass sich jemand bewusst vor­ge­nom­men hat, des­sen Ideen in die Pra­xis umzu­set­zen – obwohl er tat­säch­lich viel gele­sen wur­de und zwei­fel­los Ein­fluss auf die Lin­ke ins­ge­samt hat­te. Letzt­lich ist die Fra­ge müßig, wie direkt und bewusst der Ein­fluss ist. Denn die Stra­te­gie, die gege­be­nen Ver­hält­nis­se für mög­lichst vie­le Men­schen uner­träg­lich zu machen, ergibt sich so oder so zwin­gend aus den Prä­mis­sen der radi­ka­len Lin­ken: Ers­tens, wir leben in einem unmensch­li­chen Unter­drü­ckungs­sys­tem, das drin­gend weg muss, und zwei­tens, außer­halb unse­rer Bewe­gung merkt das niemand.

In die­ser Situa­ti­on bleibt einem nichts ande­res übrig als sich zu bemü­hen, mög­lichst vie­len immer wie­der vor Augen zu füh­ren, wie schlimm alles sei; sie zu leh­ren, das Schlech­te in allem zu sehen und in den Vor­der­grund zu rücken. Das Leben muss ihnen uner­träg­lich sein und sie müs­sen „das Sys­tem“ dafür ver­ant­wort­lich machen – nur so wird man Revo­lu­tio­när. Glück und Zufrie­den­heit dage­gen sind uner­wünscht, weil konservativ.

Zu einer Revo­lu­ti­on mag die­se Agi­ta­ti­on tat­säch­lich füh­ren. Aber wer glaubt, dass die­ses Per­so­nal von Frus­trier­ten, Hyper­sen­si­blen, Depres­si­ven und Zor­ni­gen, die sich nie auf die Wirk­lich­keit ein­ge­las­sen und ein zutiefst zyni­sches Men­schen- und Gesell­schafts­bild ver­in­ner­licht haben, danach die Uto­pie errich­ten wür­de und nicht das Gegen­teil, der glaubt auch an den Weih­nachts­mann. Bezie­hungs­wei­se nur des­we­gen nicht, weil das kon­ter­re­vo­lu­tio­när wäre. Die Nai­vi­tät ist die Gleiche.

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