Stakeholder-Kapitalismus: Ein Gespenst geht um in der Wirtschaft

Die­ser Text ist ursprüng­lich bei »Der Sand­wirt« erschie­nen.

Manch­mal durch­weht ein Hauch von DDR die Film­be­wer­tungs­por­ta­le im Inter­net. Die aktu­el­le Real­film-Neu­fas­sung von Dis­neys Klas­si­ker „Ari­el­le, die Meer­jung­frau“ erreich­te bei Rot­ten Toma­toes nach ihrem Kino­start am 26. Mai in der Publi­kums­be­wer­tung sagen­haf­te 95 Pro­zent Zustim­mung. Das war uner­war­tet, denn der Film war bereits seit Mona­ten ein Zank­ap­fel im Kul­tur­kampf gewe­sen. Dies hat­te sich etwa in einer desas­trö­sen „Ratio“ sei­ner Vor­schau auf You­Tube geäu­ßert, also einem viel­fa­chen Über­wie­gen der Klicks auf „Dau­men run­ter“. Ähn­lich war es letz­ten Som­mer den Ankün­di­gun­gen von „Die Rin­ge der Macht“ ergan­gen, der „Herr der Ringe“-Adaption von Ama­zon. Im Herbst erwies sich dann die unzu­frie­de­ne You­Tube-Öffent­lich­keit als ver­läss­li­ches Omen – die exor­bi­tant teu­re ers­te Staf­fel der Serie flopp­te. Ihre Publi­kums­be­wer­tung bei Rot­ten Toma­toes lan­de­te bei 39 Pro­zent. Weit ent­fernt von 95.

Auch bei der Film­da­ten­bank IMDB bot sich ein frag­wür­di­ges Bild. Die agg­re­gier­te Nut­zer­be­wer­tung für „Ari­el­le“ lag knapp ober­halb einer 7 von 10; ein gutes Ergeb­nis. Doch bei nähe­rem Hin­se­hen stieß man auf einen Ver­merk, dass auf­grund „unge­wöhn­li­cher Bewer­tungs­ak­ti­vi­tät“ eine „alter­na­ti­ve Gewich­tungs­kal­ku­la­ti­on“ zur Anwen­dung gekom­men sei. Die unge­wich­te­te Gesamt­wer­tung beweg­te sich dem­zu­fol­ge zwi­schen 4 und 5.

Wie üblich recht­fer­tig­ten bran­chen­na­he Medi­en das Her­aus­fil­tern schlech­ter Bewer­tun­gen, indem sie die­se Ras­sis­ten zuschrie­ben. Dem­nach stößt sich die Öffent­lich­keit an der schwar­zen Schau­spie­le­rin Hal­le Bai­ley in der Haupt­rol­le. Sogar in der „Welt“ war kürz­lich zu lesen, dass die Beset­zung schwar­zer Schau­spie­ler „man­chen zu weit“ gehe. Das wäre aller­dings etwas Neu­es. Schwar­ze Schau­spie­ler wie Will Smith, Zoe Sal­da­ña und Den­zel Washing­ton sind hoch­do­tier­te Top­stars. „Black Pan­ther“ spiel­te 2018 mit schwar­zem Ensem­ble und Regis­seur mehr als 1,3 Mil­li­ar­den US-Dol­lar ein, davon 700 Mil­lio­nen in den USA. Aktu­ell räumt „Across the Spi­der-Ver­se“ an der Kino­kas­se ab und wird von Medi­en und Publi­kum gefei­ert. Haupt­fi­gur ist Miles Mora­les, ein schwar­zer Spi­der-Man. Wenn Ras­sis­mus der Grund für den Ari­el­le-Flop ist, schlägt die­ser Ras­sis­mus merk­wür­dig selek­tiv zu.

Der Ver­dacht mani­pu­la­ti­ver Bewer­tun­gen muss rea­lis­ti­scher­wei­se bei­de Lager tref­fen. Dis­ney inves­tiert Hun­der­te Mil­lio­nen Dol­lar in einen Film wie „Ari­el­le“ und hat im Zwei­fel ein grö­ße­res Inter­es­se an sei­ner öffent­li­chen Wahr­neh­mung als ver­stimm­te Pri­vat­leu­te – und ganz ande­re Mit­tel, sie zu beeinflussen.

Disney in der Krise

So oder so: Dis­ney ist ner­vös. Die Aktie ist im Tief­flug, dem Strea­ming­dienst Dis­ney+ lau­fen die Abon­nen­ten davon, der eins­ti­ge Gold­esel „Krieg der Ster­ne“ hat im Ver­lauf der Dis­ney-Tri­lo­gie kräf­tig Zuschau­er ver­lo­ren und sich erzäh­le­risch in eine Sack­gas­se manö­vriert. Mar­vel Comics kann seit dem Höhe- und End­punkt der Aven­gers-Pha­se im Jahr 2019 nicht mehr an frü­he­re Erfol­ge anknüp­fen. Das Pix­ar-Stu­dio, das einst mit Hits wie „Fin­det Nemo“ und „Toy Sto­ry“ das Ani­ma­ti­ons­gen­re neu beleb­te, fiel 2022 mit „Ligh­tyear“ auf die Nase und muss­te einen Flop ein­ge­ste­hen. Noch spek­ta­ku­lä­rer schei­ter­te im sel­ben Jahr „Stran­ge World“ – der Ani­ma­ti­ons­film mit üppi­gen 180 Mil­lio­nen US-Dol­lar Pro­duk­ti­ons­bud­get spiel­te nur rund 70 Mil­lio­nen ein. Vor­stands­chef Bob Iger hat Ent­las­sun­gen ange­kün­digt, um Geld zu sparen.

Am 3. Juni erschien im Wirt­schafts­ma­ga­zin For­tu­ne unter der Über­schrift „Die Macht hat Lucas­film ver­las­sen“ eine unge­wohnt scho­nungs­lo­se Bilanz der Plei­ten und Ver­ir­run­gen des „Krieg der Sterne“-Studios, das Dis­ney dem Grün­der Geor­ge Lucas 2012 für rund vier Mil­li­ar­den US-Dol­lar abge­kauft hat­te. „Im Zen­trum des Cha­os“ ver­or­tet der Ver­fas­ser des­sen Che­fin Kath­le­en Ken­ne­dy. Sie hat ein­mal Hits wie „E.T.“ und „Juras­sic Park“ pro­du­ziert. In den letz­ten Jah­ren fiel sie aber eher durch ihr ener­gi­sches Bemü­hen auf, den Pro­duk­tio­nen ihres Hau­ses den Geist des inter­sek­tio­na­len Femi­nis­mus ein­zu­hau­chen, der über­all Unter­drü­ckung sieht und dies zum Dreh- und Angel­punkt sei­nes Welt­bilds macht. Dabei lie­fert sie sich Schlamm­schlach­ten mit Jon Fav­reau, dem Schöp­fer der Serie „The Man­dalo­ri­an“, der eine tra­di­tio­nel­le­re Visi­on von „Krieg der Ster­ne“ ver­tritt, und lässt sich in T‑Shirts mit der Auf­schrift „The Force is Fema­le“ ablich­ten, „Die Macht ist weib­lich“. Die­sem Mot­to ent­spre­chend wur­den die männ­li­chen Hel­den der klas­si­schen Tri­lo­gie in Ken­ne­dys Fort­set­zun­gen erst zu Ver­sa­gern redu­ziert und dann schnell und nach­hal­tig ent­sorgt. Das Lei­den von Mark Hamill an die­ser Behand­lung sei­nes Luke Sky­wal­ker ist in etli­chen Video­auf­nah­men doku­men­tiert.

Der nächs­te teu­re Rein­fall, den Ken­ne­dy ver­ant­wor­tet, steht wahr­schein­lich unmit­tel­bar bevor. Der kom­men­de fünf­te Teil der „India­na Jones“-Reihe stieß in der Vor­auf­füh­rung bei den Film­fest­spie­len in Can­nes auf ein kata­stro­pha­les Kri­ti­ker-Echo. Die agg­re­gier­te Bewer­tung auf Basis von 46 Rezen­sio­nen bei Rot­ten Toma­toes liegt bei mise­ra­blen 50 Pro­zent. Bei der BBC hieß es: „Ich weiß nicht, wie vie­le Fans India­na Jones als gebro­che­nen, hilf­lo­sen alten Mann sehen wol­len, der sich in der Ecke ver­kriecht, wäh­rend sei­ne her­ab­las­sen­de Paten­toch­ter die Füh­rung über­nimmt, aber genau das wird uns hier gebo­ten, und es ist genau­so düs­ter, wie es klingt.“

Ideologie trumpft Kunst

Dass so vie­le Hol­ly­wood-Pro­duk­tio­nen in den letz­ten Jah­ren die­se Mus­ter auf­wei­sen, ist kein Zufall. Nach Ein­schät­zung von Hol­ly­wood-Insi­dern haben alle wesent­li­chen Stu­di­os inzwi­schen Diver­si­ty-Quo­ten für ihre Pro­duk­tio­nen fest­ge­legt. Ab 2024 wer­den Fil­me nicht mehr zu den Oscars zuge­las­sen, wenn sie nicht die Diver­si­ty-Kri­te­ri­en der Aca­de­my erfül­len. Dabei geht es haupt­säch­lich um die Betei­li­gung von Frau­en, Nicht­wei­ßen und sexu­el­len Min­der­hei­ten auf allen Ebe­nen der Pro­duk­ti­on sowie in den Stof­fen selbst in bestimm­tem Umfang. Doch der Geist, der dem Quo­ten­den­ken zugrun­de liegt, wirkt in Hol­ly­wood viel­leicht noch stär­ker als die Quo­ten selbst.

Dies zeigt ein Arti­kel über „Hol­ly­woods neue Regeln“, der Anfang 2022 bei The Free Press erschie­nen ist, dem Alter­na­tiv­me­di­um der ehe­ma­li­gen New-York-Times-Redak­teu­rin Bari Weiss. Grund­la­ge dafür war eine Befra­gung von mehr als 25 Autoren, Regis­seu­ren und Pro­du­zen­ten, die mehr­heit­lich anonym blei­ben woll­ten. Das Stück berich­tet von einem Kli­ma der Angst, gegen die neue Ortho­do­xie zu ver­sto­ßen und gecan­celt zu wer­den. In den Autoren­teams kommt die Krea­ti­vi­tät zum Erlie­gen. „Sie müss­ten ver­rückt sein, um beim Schrei­ben nicht stän­dig all die­se Ras­sen- und Geschlechts- und Trans-Fra­gen im Bewusst­sein zu haben“, erklärt ein Autor. „Sie müs­sen sich Sor­gen dar­über machen, wie sich jeder Schritt auf Ihre Kar­rie­re aus­wir­ken wird.“ 

Des­halb hät­ten in Hol­ly­wood alle „ihre wah­ren Gefüh­le zur Ver­schluss­sa­che gemacht“, meint der Autor und Regis­seur Mike White. Das Arbeits­kli­ma lei­de zusätz­lich dar­un­ter, dass Seri­en­ver­ant­wort­li­che nicht mehr selbst ent­schei­den könn­ten, wen sie beschäf­ti­gen. Meh­re­re ähn­lich lau­ten­de E‑Mail-Absa­gen wer­den zitiert; davon eine: „Wie wich­tig ist es dir, ihn zu enga­gie­ren? Intern gefällt man­chen die Idee nicht, einen wei­ßen Typen anzu­heu­ern. Ich wünsch­te, hät­te eine bes­se­re Art, das zu framen. Has­se die­sen Scheiß.“ 

Man­che tre­ten in die­ser Situa­ti­on eine Flucht nach vorn an: „Am bes­ten ver­tei­digt man sich gegen die Woken, indem man woker ist als alle ande­ren, ein­schließ­lich der Woken selbst“, so ein Autor. Das erklärt eini­ges. 2021 stell­te der Regis­seur Quen­tin Taran­ti­no in der Latenight-Show von Bill Maher fest: „Vor allem seit dem letz­ten Jahr ist Ideo­lo­gie wich­ti­ger als Kunst. Ideo­lo­gie trumpft Kunst. Ideo­lo­gie trumpft indi­vi­du­el­le Leis­tung. Ideo­lo­gie trumpft gut.“

Der neue Wohltäter-Kapitalismus

Sie müs­sen Ver­hal­ten erzwin­gen“, sagt Lar­ry Fink, Chef der welt­größ­ten Ver­mö­gens­ver­wal­tungs­ge­sell­schaft Black­rock. Die Sze­ne spielt auf der jähr­li­chen Deal­book-Kon­fe­renz der New York Times im Jahr 2017. Der Mode­ra­tor hat­te Fink dar­auf ange­spro­chen, dass sein Unter­neh­men „Diver­si­tät“ als Kri­te­ri­um für Inves­ti­ti­ons­ent­schei­dun­gen her­an­zie­he. Wenn intern Mit­ar­bei­ter ihre Diver­si­ty-Zie­le nicht erreich­ten, so Fink, kön­ne sich das auf ihre Ver­gü­tung aus­wir­ken, und nach außen hin „machen wir das Glei­che“. Die Leu­te müss­ten es spü­ren, wenn sie hin­ter den Erwar­tun­gen zurück­blie­ben. Er wie­der­holt mit Nach­druck: „Sie müs­sen Ver­hal­ten erzwin­gen.“ Black­rock wirt­schaf­tet mit Anle­ger­gel­dern in Höhe von mehr als 10 Bil­lio­nen US-Dol­lar und ist größ­ter Ein­zel­ak­tio­när vie­ler Akti­en­ge­sell­schaf­ten, dar­un­ter Disney.

Neben Klaus Schwab, dem Grün­der und Chef des Welt­wirt­schafts­fo­rums, ist Fink der wohl pro­mi­nen­tes­te Ver­tre­ter der Bewe­gung, die hin­ter dem Kür­zel „ESG“ steckt. Es steht für „Envi­ron­men­tal, Social and Gover­nan­ce“ – Umwelt, Sozia­les und Unter­neh­mens­füh­rung – und ist ein Sche­ma zur Bewer­tung des Han­delns von Unter­neh­men in die­sen drei Berei­chen. Die­se Bewer­tun­gen sind zunächst im Zusam­men­hang mit Geld­an­la­gen rele­vant. Eine ESG-Inves­ti­ti­on ist eine Anla­ge in aus­ge­such­te Unter­neh­men, die als umwelt­freund­lich und sozi­al gelten.

Die För­de­rung sol­cher Unter­neh­men durch ESG soll eine neue Art von Kapi­ta­lis­mus ent­ste­hen las­sen, den „Stake­hol­der-Kapi­ta­lis­mus“, dem Klaus Schwab zuletzt ein gan­zes Buch gewid­met hat. Er soll Fir­men als rund­um posi­tiv wir­ken­de gesell­schaft­li­che Kräf­te auf­stel­len, in bewuss­ter Abgren­zung zum Share­hol­der-Kapi­ta­lis­mus, in dem sie allein den Eigen­tü­mern bezie­hungs­wei­se Aktio­nä­ren ver­pflich­tet sind. Die „Stake­hol­der“ (etwa: Inter­es­sen­grup­pen oder Teil­ha­ber), denen die­se sozi­al ver­ant­wort­li­chen Unter­neh­men die­nen sol­len, sind alle Grup­pen, die irgend­wie mit ihnen in Ver­bin­dung ste­hen – Mit­ar­bei­ter, Kun­den, Lie­fe­ran­ten und ande­re, bis hin zur Gesell­schaft insgesamt.

Für­spre­cher des Stake­hol­der-Kapi­ta­lis­mus beteu­ern, nach ESG-Prin­zi­pi­en han­deln­de Unter­neh­men sei­en pro­fi­ta­bler und wür­fen bes­se­re Ren­di­ten für Inves­to­ren ab. Es ist kein Wun­der, dass sie das behaup­ten, denn zum einen wol­len sie ESG-Inves­ti­tio­nen ver­kau­fen, zum ande­ren gilt für Vor­stän­de recht­lich immer noch die Treue­pflicht gegen­über den Aktio­nä­ren. Bewusst auf­grund poli­ti­scher Prä­fe­ren­zen auf Pro­fi­te zu ver­zich­ten, wür­de die­se Treue­pflicht ver­let­zen. Doch wenn das Wirt­schaf­ten nach ESG-Richt­li­ni­en ohne­hin pro­fi­ta­bler ist, stellt sich die Fra­ge, war­um das natür­li­che Pro­fit­in­ter­es­se von Unter­neh­men nicht genügt, sie zu ent­spre­chen­dem Ver­hal­ten zu motivieren.

Die Willkür der Fondsverwalter

Wenn Akteu­re wie Black­rock, Van­guard und Sta­te Street – die ein­fluss­reichs­ten Ver­mö­gens­ver­wal­ter im ESG-Boot – Aus­sa­gen über aktu­el­le Markt­ent­wick­lun­gen tref­fen, ist nie ganz klar, ob es sich dabei um Beob­ach­tun­gen oder Dro­hun­gen han­delt. Lar­ry Fink etwa schreibt jähr­lich einen offe­nen Brief an die Vor­stands­chefs der Unter­neh­men, an denen Black­rock betei­ligt ist. Wenn er dar­in betont, dass Stake­hol­der-Kapi­ta­lis­mus und ESG immer wich­ti­ger wür­den, wer­den sie mit sofor­ti­ger Wir­kung tat­säch­lich wich­ti­ger, denn wer von Black­rock gemie­den wird, ver­liert Zugang zu Inves­to­ren­ka­pi­tal. Zieht ein Unter­neh­men nicht mit, kann es an gleich drei Fron­ten Schwie­rig­kei­ten bekom­men: bei der Kre­dit­auf­nah­me, am Akti­en­markt und im Auf­sichts­rat. Dort sit­zen Ver­tre­ter der Aktio­nä­re, die umso mehr zu sagen haben, je grö­ßer ihre Antei­le sind. Neben Dis­ney gehö­ren etwa auch Alli­anz, Bay­er und E.on zu den Akti­en­ge­sell­schaf­ten, bei denen Black­rock das größ­te Akti­en­pa­ket besitzt. Van­guard ist die Num­mer eins bei Alpha­bet (Goog­le), Apple und Microsoft.

Wie qua­li­fi­zie­ren sich Unter­neh­men nun für ESG-Inves­ti­tio­nen? Hier herrscht weit­ge­hend Will­kür. Inves­to­ren wei­sen ESG-Punk­te nach Gut­dün­ken zu. Dabei stüt­zen sie sich teils auf die Ein­schät­zun­gen von Insti­tu­ten, Agen­tu­ren und Lob­by­or­ga­ni­sa­tio­nen, teils auf die öffent­li­chen ESG-Berich­te der Unter­neh­men selbst. Die­se wie­der­um haben Nar­ren­frei­heit bei der Erstel­lung ihrer Berich­te. So ent­ste­hen Anrei­ze für pla­ka­ti­ven Aktio­nis­mus. Wenn Coca-Cola wei­ße Mit­ar­bei­ter in soge­nann­ten Anti­ras­sis­mus-Schu­lun­gen auf­for­dert, zu „ver­su­chen, weni­ger weiß zu sein“, wie 2021 gesche­hen, kann der Geträn­ke­her­stel­ler dies in sei­nem Bericht auf­füh­ren und mit ent­spre­chen­den ESG-Punk­ten für Diver­si­tät, Anti­ras­sis­mus, Inklu­si­on und so wei­ter mora­lisch glän­zen. Die Ver­mö­gens­ver­wal­ter ihrer­seits kön­nen Coca-Cola-Akti­en mit mora­li­schem Güte­sie­gel ver­mark­ten. Für bei­de ein gutes Geschäft. Gleich­zei­tig ent­steht ein ganz neu­er Kuchen für die jun­ge Mil­li­ar­den­bran­che von Diver­si­ty-Bera­tern, die sol­che Trai­nings durch­füh­ren. Ob das Gan­ze gegen Ras­sis­mus hilft oder viel­mehr das Gegen­teil bewirkt, wie Stu­di­en nahe­le­gen, steht auf einem ande­ren Blatt.

Dass die ESG-Bewe­gung in Deutsch­land öffent­lich weni­ger Wel­len schlägt, obwohl die euro­päi­sche Wirt­schaft sie bereit­wil­li­ger auf­ge­nom­men hat als die US-ame­ri­ka­ni­sche, ist eben­falls Fol­ge besag­ter Will­kür: Wel­che Fak­to­ren über­haupt mit wel­cher Gewich­tung in eine ESG-Bewer­tung ein­flie­ßen, vari­iert je nach Regi­on und Fonds­ma­na­ger. Der „Social“-Bestandteil, so das Maga­zin For­bes, beinhal­tet im Ver­ei­nig­ten König­reich etwa Inves­ti­tio­nen in bezahl­ba­re Woh­nun­gen, in der Euro­päi­schen Uni­on Aspek­te wie Skla­ven­ar­beit in der Lie­fer­ket­te, in den USA vor allem Diver­si­tät und Inklusion.

Politik jenseits demokratischer Prozesse

Als Zweck­ehe zwi­schen Kapi­tal und lin­kem Akti­vis­mus beschreibt der Inves­tor, Unter­neh­mer und Bewer­ber um die repu­bli­ka­ni­sche Prä­si­dent­schafts­kan­di­da­tur Vivek Ramas­wa­my den ESG-Trend in sei­nem Buch „Woke, Inc.: Insi­de Cor­po­ra­te America’s Social Jus­ti­ce Scam“. Ihm zufol­ge hat vor allem die Finanz­kri­se von 2008 die unwahr­schein­li­chen Part­ner zusam­men­ge­führt. Das Miss­ma­nage­ment der Ban­ken und deren Ret­tung mit Steu­er­geld ris­sen den Kapi­ta­lis­mus in eine Ver­trau­ens­kri­se. Die Pro­test­be­we­gung „Occu­py Wall Street“ stand vor den Toren und mach­te die Inter­es­sen der „99 Pro­zent“ gel­tend. Ein Bünd­nis mit der in Mode kom­men­den Iden­ti­täts­po­li­tik war der – auf kur­ze Sicht – per­fek­te Befrei­ungs­schlag für das Kapi­tal. Nun hieß es nicht mehr 99 Pro­zent gegen ein Pro­zent, son­dern Frau­en gegen Män­ner, Schwar­ze gegen Wei­ße, Schwu­le gegen Hete­ros und so wei­ter. Unter­neh­men konn­ten plötz­lich Seit an Seit mit den Unter­drück­ten gegen Patri­ar­chat, Ras­sis­mus und Hete­ro­nor­ma­ti­vi­tät kämp­fen und sich so mora­li­sche Abso­lu­ti­on ver­schaf­fen. Die Akti­vis­ten pro­fi­tier­ten, indem sie durch die Kon­zer­ne in ganz neu­en Dimen­sio­nen gesell­schaft­li­chen Ein­fluss erhielten.

Der woke Kapi­ta­lis­mus ist dem­nach semi-woke: Man­che Akteu­re glau­ben an eine Welt­ver­bes­se­rung auf die­sem Weg, man­che pro­fi­tie­ren schlicht davon, dass ande­re dar­an glau­ben. So oder so sieht Ramas­wa­my dar­in eine Bedro­hung der Demo­kra­tie, da hier unter Umge­hung öffent­li­cher Dis­kus­si­on und demo­kra­ti­scher Insti­tu­tio­nen Poli­tik gemacht wer­de. Es han­de­le sich um eine neue Form von Mau­sche­lei zwi­schen US-Regie­rung und Wirt­schaft, die es in ande­ren For­men seit jeher gebe. Die Kon­zer­ne hät­ten sich „spe­zi­ell für die Demo­kra­ten einen neu­en Trick aus­ge­dacht: Sie stel­len ihre Kon­zern­macht als Werk­zeug zur Ver­fü­gung, um radi­ka­le Agen­den umzu­set­zen, die die Demo­kra­ten nie durch den Kon­gress bekom­men würden.“

Die­se Ein­schät­zung fand 2019 auf der Wirt­schafts­kon­fe­renz Busi­ness for Social Respon­si­bi­li­ty offen­her­zi­ge Bestä­ti­gung. Beth Broo­ke-Mar­ci­ni­ak, umtrie­bi­ge Geschäfts­frau mit akti­vis­ti­schen Ambi­tio­nen und zuletzt bei der Unter­neh­mens­be­ra­tung EY als glo­ba­le Vize­vor­sit­zen­de des Bereichs Public Poli­cy für mehr als 150 Län­der zustän­dig, sprach über die Orga­ni­sa­ti­on „Part­ner­ship for Glo­bal LGBTIQ+ Equa­li­ty“ oder kurz PGLE. Dies ist ein Zusam­men­schluss von Unter­neh­men, der zusam­men mit dem Welt­wirt­schafts­fo­rum und den Ver­ein­ten Natio­nen Kri­te­ri­en für die “Inklu­si­on” sexu­el­ler und geschlecht­li­cher Min­der­hei­ten trom­melt, an der sich der „Social“-Faktor von ESG bemes­sen lässt. PGLE hat sich offi­zi­ell Anfang 2019 gegrün­det, doch die Haupt­ak­teu­re waren zu die­sem Zeit­punkt bereits seit ein paar Jah­ren aktiv. Mit Blick auf die Anfän­ge erzählt Broo­ke-Mar­ci­ni­ak: „Vize-Prä­si­dent Biden traf sich pri­vat mit denen von uns, die hin­ter den Kulis­sen arbei­te­ten. Er setz­te sich mit uns hin, blick­te uns in die Augen und sag­te: ‚Ihr Unter­neh­men könnt umset­zen, was wir, die Regie­rung, nicht umset­zen kön­nen und wer­den. Ihr müsst in die­ser Sache die Welt verändern.‘“

Anfang März 2023 ver­ab­schie­de­te der US-Kon­gress ein Gesetz, das Fonds­ma­na­gern ver­bie­ten soll­te, Pen­si­ons­gel­der nach ESG-Kri­te­ri­en anzu­le­gen. Es ging dabei um Ver­mö­gen von 150 Mil­lio­nen US-Ame­ri­ka­nern in Höhe von 12 Bil­lio­nen US-Dol­lar. Prä­si­dent Biden stopp­te das Gesetz mit dem ers­ten Veto sei­ner Amtszeit.

Wenn die Stakeholder nicht mitspielen

ESG kann für Unter­neh­men zur gefähr­li­chen Zwick­müh­le wer­den, wenn der Akti­vis­mus, den Bewer­tungs­agen­tu­ren und Inves­to­ren „erzwin­gen“ wol­len, auf den Märk­ten nicht gut ankommt. Das bekom­men der­zeit meh­re­re US-Kon­zer­ne zu spü­ren. Einer davon ist Dis­ney. Ein ande­rer der Braue­rei­kon­zern Anheuser-Busch.

Am 1. April ver­öf­fent­lich­te der quir­li­ge und pola­ri­sie­ren­de Trans­gen­der-Influen­cer Dylan Mul­va­ney, der bereits das Wei­ße Haus besu­chen durf­te, für sei­ne Mil­lio­nen Fol­lower ein fol­gen­rei­ches Video. Dar­in prä­sen­tier­te er eine Son­der­an­fer­ti­gung von Bier­do­sen der Mar­ke Bud Light, die der Her­stel­ler mit sei­nem Ant­litz bedruckt hat­te, um das ers­te Jubi­lä­um sei­nes Daseins als „Mäd­chen“ zu fei­ern. Das kon­ser­va­ti­ve Ame­ri­ka explo­dier­te. Der fol­gen­de Boy­kott traf den Her­stel­ler samt Mut­ter­kon­zern Anheu­ser-Busch hart. Noch Mit­te Mai lagen die Ver­kaufs­zah­len des meist­ge­trun­ke­nen Bie­res in den USA rund 30 Pro­zent unter denen des Vor­jah­res. Ende Mai hat­te Anheu­ser-Busch 27 Mil­li­ar­den US-Dol­lar an Bör­sen­wert verloren.

Wirt­schafts­me­di­en spe­ku­lie­ren, ob sich Bud Light wohl mit Blick auf sei­ne ESG-Punk­te zur Koope­ra­ti­on mit Mul­va­ney ent­schie­den hat­te. Die­ser Ver­dacht erhär­te­te sich, als sich Anfang Mai die Human Rights Cam­paign zu Wort mel­de­te, die Lob­by­or­ga­ni­sa­ti­on, die den Cor­po­ra­te Equa­li­ty Index (CEI) führt. Dies ist eine Metrik zur Bewer­tung des „S“ in ESG, die unter ande­rem von der oben genann­ten PGLE-Initia­ti­ve emp­foh­len wird. Das Pro­blem: die Reak­ti­on von Bud Light auf den Boy­kott. Nach ein paar Tagen Schock­star­re hat­te sich das Unter­neh­men vor­sich­tig von Mul­va­ney distan­ziert. Es sei ja nur eine iso­lier­te Foto­ak­ti­on gewe­sen, kei­ne Kam­pa­gne. Man habe nie beab­sich­tigt, Bot­schaf­ten zu ver­brei­ten, die die Men­schen spal­ten. Ein wei­te­res Signal war die Frei­stel­lung zwei füh­ren­der Mar­ke­ting­ver­ant­wort­li­cher von ihren Aufgaben.

Das ist kei­ne Reak­ti­on, die CEI-Punk­te bringt. Die Human Rights Cam­paign erklär­te öffent­lich, dass der bis­lang per­fek­te CEI-Score von Bud Light für eine even­tu­el­le Neu­be­wer­tung vor­läu­fig aus­ge­setzt wer­de, und gab dem Bier­brau­er 90 Tage Zeit zur Stel­lung­nah­me. Ende Mai setz­te Bud Light sei­nen Zick­zack­kurs fort und kün­dig­te eine Spen­de in sechs­stel­li­ger Höhe an eine LGBTIQ+-Organisation an. 

Für 2023 hat die Human Rights Cam­paign aber­mals die Anfor­de­run­gen erhöht, die Unter­neh­men erfül­len müs­sen, um einen per­fek­ten CEI-Score zu erhal­ten. Auf der Lis­te steht nun unter ande­rem die Abde­ckung von medi­zi­ni­schen Tran­si­ti­ons­be­hand­lun­gen wie Hor­mon­the­ra­pien, ästhe­ti­schen Ope­ra­tio­nen und Puber­täts­blo­ckern durch die betrieb­li­che Krankenversicherung.

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