Der werdende Gott der radikalen Linken

In einem fast vier­stün­di­gen Mons­ter von einem Pod­cast, der vor gut einer Woche erschie­nen ist, zeich­net James Lind­say nach, wie die Phi­lo­so­phie Hegels zur Grund­la­ge einer Reli­gi­on gewor­den sei, die vom Mar­xis­mus über den Neo-Mar­xis­mus bis zur heu­ti­gen Woke­ness das »Betriebs­sys­tem« der radi­ka­len Lin­ken bil­de. Die­se Reli­gi­on dient einem Gott, der nicht wie die her­kömm­li­chen Göt­ter prä­exis­tent ist, son­dern durch den his­to­ri­schen Pro­zess wird. Was den Pro­zess vor­an­treibt, ist die Dialektik.

Die Dia­lek­tik ist die Abfol­ge von Abs­trak­tem, Nega­ti­on und Kon­kre­tem, oder in der popu­lä­re­ren Form nach Kant: The­se, Anti­the­se, Syn­the­se. Wir set­zen einem Aspekt des Bestehen­den sei­ne Nega­ti­on ent­ge­gen, wodurch er in sei­ner bis­he­ri­gen Form auf­hört zu exis­tie­ren, und an sei­ner Stel­le ent­steht als Syn­the­se aus der nun über­wun­de­nen Form und der Nega­ti­on etwas – so die Idee – Bes­se­res. Die­ser dia­lek­ti­sche Kreis­lauf wie­der­holt sich, bis das gesell­schaft­li­che gro­ße Gan­ze per­fekt ist. Das per­fek­tio­nier­te Gan­ze ist »das Abso­lu­te« (Hegel), der wer­den­de Gott, die Uto­pie, der Kom­mu­nis­mus oder wie man heu­te viel­leicht sagen wür­de, die »gerech­te Gesell­schaft«. In die­sem per­fek­ten End­zu­stand der Geschich­te sind Theo­rie und Pra­xis in vol­lem Ein­klang und Indi­vi­du­um und Kol­lek­tiv haben ein voll­stän­di­ges Bewusst­sein vom Funk­tio­nie­ren des gro­ßen Gan­zen. Die kon­kre­te Mani­fes­ta­ti­on die­ser Per­fek­ti­on ist der per­fek­tio­nier­te Staat.

Man sieht das tota­li­tä­re Unheil, das in die­ser Idee lau­ert. Nicht nur nimmt sie an, dass Frei­heit pri­mär durch den Staat zu ver­wirk­li­chen sei, son­dern sie schließt letzt­lich auch aus, dass es eine legi­ti­me Mei­nungs­plu­ra­li­tät oder ‑frei­heit geben kann. Wir fin­den durch den dia­lek­ti­schen Pro­zess nach und nach die rich­ti­gen Ideen, womit dann kein Platz mehr für die fal­schen ist, und Akti­vis­ten sowie grö­ßen­wahn­sin­ni­ge Dik­ta­to­ren glau­ben, sie hät­ten sie bereits gefun­den oder sei­en zumin­dest wesent­lich näher dran als der Rest. Die Mei­nun­gen und Bedürf­nis­se des Res­tes haben in die­sem Rah­men kein Recht mehr, berück­sich­tigt zu wer­den. Sie ste­hen dem his­to­ri­schen Pro­zess der Per­fek­tio­nie­rung im Weg und machen sich dadurch schul­dig an all dem Leid, das in der unper­fek­ten Welt herrscht. 

So gese­hen wird es sogar plau­si­bel, dass die Mil­lio­nen­blut­bä­der unter Lenin, Sta­lin, Mao etc. nicht als Wider­le­gung der Theo­rie zäh­len. Die Theo­rie ent­wi­ckelt sich wei­ter, und inso­fern sind die frü­he­ren Ver­su­che nur frü­he­re Rota­tio­nen der Dia­lek­tik, die nicht schön, aber not­wen­dig waren, um die geschicht­li­che Ent­wick­lung voranzutreiben.

Was treibt soziale Bewegungen?

Ich stel­le mir immer wie­der eine Fra­ge, wenn ich Lind­says Dis­kus­sio­nen lin­ker Theo­rien ver­fol­ge. Wenn er hier zum Bei­spiel sagt, dass alles, was wir bei der radi­ka­len Lin­ken heu­te sehen, auf Hegel zurück­ge­he, meint er dann wirk­lich, dass das alles kau­sal auf Hegel zurück­ge­he? So dass, wenn Hegel früh an einer Krank­heit gestor­ben wäre, das alles nicht pas­siert wäre? Iro­ni­scher­wei­se ist dies genau die Fra­ge, an der sich Marx gegen Hegel wand­te. Hegel mein­te, Ideen trie­ben die his­to­ri­sche Ent­wick­lung vor­an, Marx sah Ideen umge­kehrt als Aus­druck der mate­ri­el­len Ver­hält­nis­se. Hier bin ich eher bei Marx.

Ich wür­de recht zuver­sicht­lich dar­auf tip­pen, dass dies auch auf Lind­say zutrifft, doch er for­mu­liert meist so, als gin­ge die Ent­wick­lung zumin­dest der poli­ti­schen Bewe­gun­gen ein­sei­tig von den Ideen der Phi­lo­so­phen und Theo­re­ti­ker aus. Ich las auch ein­mal in einem Blog eine Kri­tik an »Cyni­cal Theo­ries«, die in die­se Rich­tung ging. Lind­say und Pluck­ro­se for­mu­lie­ren so, als lie­ße sich die gan­ze Woke­ness-Bewe­gung auf ein paar phi­lo­so­phi­sche Schrif­ten zurück­füh­ren. Damit schei­nen sie impli­zit einer Grund­an­nah­me der Post­mo­der­nis­ten recht zu geben, der sie expli­zit wider­spre­chen: der­je­ni­gen, dass Dis­kur­se Wirk­lich­keit erschu­fen und Spra­che gewis­ser­ma­ßen Men­schen pro­gram­mie­re. Dass die Erklä­rung sozia­ler Bewe­gun­gen allein mit phi­lo­so­phi­schen Schrif­ten nicht aus­reicht, wird mei­nes Erach­tens sofort deut­lich, wenn man die Fra­ge auf­wirft, war­um aus­ge­rech­net die­se Schrif­ten in der Gesell­schaft auf so frucht­ba­ren Boden gefal­len sind.

Anders gefragt: Kom­men Lin­ke auf die­se Ideen, weil Hegel, Marx, Mar­cu­se usw. sie in die Welt set­zen, oder kom­men sie auf die­se Ideen, weil ein Zusam­men­spiel von Aspek­ten der mensch­li­chen Natur mit einem bestimm­ten kul­tu­rel­len Kon­text die­se Ideen nahe­legt, wor­auf­hin Leu­te wie Hegel, Marx, Mar­cu­se usw. sie als Ers­te und am bes­ten arti­ku­lie­ren? So for­mu­liert, scheint mir klar, dass Letz­te­res zutrifft. Man sieht das etwa auch dar­an, dass sozia­le Bewe­gun­gen immer nur bestimm­te Aspek­te der Theo­re­ti­ker auf­grei­fen und ande­re igno­rie­ren, oft so weit, dass sie aus der Theo­rie etwas machen, dem der Theo­re­ti­ker gar nicht mehr zuge­stimmt hät­te. Es geht ihnen eben um ihre Bedürf­nis­se und nicht um seine.

Lind­says Vor­ge­hen ist völ­lig rich­tig, weil die Ana­ly­se der in den Schrif­ten dar­ge­leg­ten Ideen der bes­te Weg ist, deren Logik und damit auch die Logik des Han­delns der Men­schen in den ent­spre­chen­den Bewe­gun­gen mög­lichst genau zu ver­ste­hen. Doch unter­be­lich­tet bleibt dabei, wel­che Kon­stel­la­tio­nen von mensch­li­chen Bedürf­nis­sen und Nei­gun­gen in bestimm­ten kul­tu­rel­len Kon­tex­ten es sind, die die­se Theo­rien und Denk­wei­sen her­vor­brin­gen und popu­lär machen. Wel­chen Nerv haben sie getrof­fen und tref­fen sie?

Tiefere Ursprünge der Theorie

Was mich auf die­se Fra­ge stößt, sind neben der theo­re­ti­schen Über­le­gung schlicht per­sön­li­che Erin­ne­run­gen. In mei­ner lin­ken Zeit habe ich in man­cher Hin­sicht genau so getickt, wie man die­sen Schrif­ten zufol­ge ticken soll, ohne dass ich sie gekannt hät­te. Zum Bei­spiel weiß ich noch, wie mir jemand von Mar­cu­ses »repres­si­ver Tole­ranz« erzähl­te und mir den zen­tra­len Gedan­ken dar­in erklär­te. Man müs­se into­le­rant gegen Into­le­ranz sein, damit Tole­ranz herr­schen kön­ne. Im nächs­ten Schritt wur­de »into­le­rant« mit »kon­ser­va­tiv« gleich­ge­setzt und dar­aus folg­te dann, dass die Lin­ke gegen alles Nicht-Lin­ke into­le­rant sein und sich gleich­zei­tig als beson­ders tole­rant sehen dür­fe und müs­se. Mir gefiel der Gedan­ke, aber ich emp­fand ihn nicht als etwas Neu­es, mei­ne Reak­ti­on war eher ein schul­ter­zu­cken­des »jau, so ist es«, als hät­te ich das schon gewusst.

Lind­say ver­weist seit Mona­ten immer wie­der dar­auf, dass die heu­ti­ge Lin­ke nach die­sem Prin­zip hand­le. Es ent­spricht der oft anzu­tref­fen­den Dop­pel­mo­ral: Lin­ke dür­fen alles, Rech­te nichts. Die Begrün­dung dafür wäre, dass die Lin­ke die Kraft der Befrei­ung sei und die Rech­te die Kraft, die sich der Befrei­ung ent­ge­gen­stel­le, wodurch sie sich an all dem Leid in der unper­fek­ten Welt schul­dig mache, das die Lin­ke abschaf­fen wür­de, wenn man sie nur lie­ße. Aber ist das nun »alles Mar­cu­se«? Ich glau­be eher, grob gespro­chen, es ist eine Kom­bi­na­ti­on aus Res­sen­ti­ment, Rea­li­täts­ver­wei­ge­rung, Nar­ziss­mus, Eitel­keit und Tri­ba­lis­mus, die in vie­len Köp­fen Wur­zeln schlägt und von Mar­cu­se in einem ela­bo­rier­ten Gedan­ken­ge­bäu­de ratio­na­li­siert wur­de, das bei die­sen Köp­fen dann ent­spre­chend gut ankam.

Wie war ich dazu gekom­men, so zu den­ken? Sicher nicht durch die Lek­tü­re lin­ker Theo­re­ti­ker. Nun könn­te man spe­ku­lie­ren, es sei mir indi­rekt und impli­zit zuge­tra­gen wor­den; die ursprüng­li­che Quel­le sei­en durch­aus die Theo­re­ti­ker gewe­sen, doch ihre Ideen sei­en von Lin­ken so stark inter­na­li­siert und so oft wei­ter­ge­ge­ben wor­den, dass die­ser Ursprung oft nicht mehr klar erkenn­bar sei. Ich kann das nicht aus­schlie­ßen, aber die Annah­me scheint mir gewagt. Es müss­te dann wirk­lich sehr impli­zit gewe­sen sein, da ich bis zum Stu­di­um nie etwas mit lin­ker Theo­rie zu tun hat­te und mir die­se Kern­ideen schon ver­traut und natür­lich vor­ka­men, als ich dort erst­mals mit ihren arti­ku­lier­ten For­men in Berüh­rung kam.

Ich den­ke daher, dass sich in die­sen Theo­rie­kon­struk­ten basa­le mensch­li­che Reak­tio­nen auf bestimm­te Erfah­run­gen abbil­den. Die ganz oben skiz­zier­te akti­vis­ti­sche Vari­an­te der Dia­lek­tik bei­spiels­wei­se, dass man das Unvoll­kom­me­ne durch Nega­ti­on bzw. Kri­tik abschä­len müs­se, um zur Per­fek­ti­on vor­zu­drin­gen, scheint mir einen roman­ti­schen Reflex zu arti­ku­lie­ren, der im Erwach­sen­wer­den ent­steht. Das reins­te Glück ist das kind­li­che Glück, das am ehes­ten unbe­schwer­te, unbe­fleck­te Leben ist die Kind­heit und das Erwach­sen­wer­den ist frus­trie­rend. Es reißt uns aus dem kind­li­chen Glück her­aus und nötigt uns dazu, uns mit unzäh­li­gen frus­trie­ren­den Tat­sa­chen des Lebens aus­ein­an­der­zu­set­zen und zu arran­gie­ren; mit Hür­den, die uns im Weg ste­hen, mit unfreund­li­chen und inkom­pe­ten­ten Per­so­nen, mit Unge­rech­tig­keit, mit Mühen, Ent­täu­schun­gen, Schmerz, Leid, ethi­schen Dilem­ma­ta und so wei­ter. Wir haben tief in uns ein Gefühl von Per­fek­ti­on, Glück, Freu­de, Lie­be, Befrie­di­gung, Gebor­gen­heit, Gemein­schaft, Soli­da­ri­tät und alle­dem, was die Uto­pie aus­ma­chen soll, weil wir es immer wie­der in klei­nen Dosen erle­ben, und wenn wir es nicht erle­ben, erle­ben wir umso stär­ker die Sehn­sucht danach. Gleich­zei­tig erle­ben wir, wie wenig von die­sem schö­nen Ide­al der Per­fek­ti­on zur Ver­wirk­li­chung kommt, weil die Men­schen und die Insti­tu­tio­nen so unvoll­kom­men sind. Also bekämp­fen wir im Namen der Voll­kom­men­heit, der Uto­pie, des Abso­lu­ten das Unvoll­kom­me­ne an unse­ren Lebens­be­din­gun­gen. Macht kaputt, was euch kaputt macht! Das siche­re Gefühl des Voll­kom­me­nen in uns wird in der uto­pis­ti­schen Theo­rie zu der Annah­me, dass man nur das Schlech­te weg­schä­len müs­se, um das Voll­kom­me­ne freizulegen.

Es wäre also im Kern eine trot­zi­ge Wei­ge­rung, sich auf die Wirk­lich­keit ein­zu­las­sen und erwach­sen zu wer­den. Statt­des­sen fällt die Ent­schei­dung, die Wirk­lich­keit zu bekämp­fen, um sie so umzu­ge­stal­ten, dass all die schmerz­li­chen Kom­pro­mis­se und Frus­tra­tio­nen nicht mehr nötig sind. Es ist das Prin­zip Pseu­do-Rea­li­tät. Nicht ich muss mich anpas­sen, son­dern die Welt muss sich ändern, und durch die Errich­tung einer dys­to­pi­schen Pseu­do-Rea­li­tät mani­pu­lie­re und nöti­ge ich mög­lichst vie­le Men­schen, sich an mei­nem Krieg gegen die Wirk­lich­keit zu beteiligen.

Dies wirft die Fra­ge auf, war­um sich so vie­le jun­ge Leu­te für die­sen Krieg ent­schei­den. Kaput­te Fami­li­en wie in mei­nem Fall dürf­ten ein Grund, aber nicht der ein­zi­ge sein. Lin­ke wür­den es ein­fach mit dem Elend der Welt begrün­den. Die­ses spielt sicher­lich eine Rol­le, aber ich glau­be nicht dar­an, dass es die pri­mä­re Moti­va­ti­on ist. Wer Akti­vist wird, macht das nicht aus rei­ner Selbst­lo­sig­keit, son­dern hat ein eige­nes Pferd im Ren­nen. Das Elend der Welt ist nur das stärks­te Argu­ment, mit dem er sei­ne Feind­schaft gegen die Wirk­lich­keit als mora­li­sche Hal­tung aus­wei­sen kann. Die Annah­me, es gehe hier pri­mär um Mit­ge­fühl und Selbst­lo­sig­keit, wird durch die her­vor­ste­chen­de Selbst­ge­rech­tig­keit die­ser Denk­wei­sen widerlegt.

Am Ende bleibt nur Zerstörung

Die Idee der Dia­lek­tik ist auch des­halb so ver­füh­re­risch, weil sie an der Ober­flä­che plau­si­bel erscheint, beson­ders für Intel­lek­tu­el­le. Kri­ti­sie­ren und dadurch ver­bes­sern. Logisch. Das ist auch so ein Grund­ge­dan­ke, den ich schon ver­in­ner­licht hat­te, bevor ich auch nur den Begriff »Dia­lek­tik« kann­te. Ich schrieb in mei­nem lin­ken Blog dar­über, wie schreck­lich alles sei, und rede­te mir ein, dadurch einen Bei­trag zu leis­ten, weil doch Kri­tik not­wen­dig sei, um die Din­ge zu verbessern.

Ich glau­be, dies ist eine wesent­li­che Moti­va­ti­on, die das Wir­ken vie­ler Men­schen in den Geis­tes- und Sozi­al­wis­sen­schaf­ten in eine destruk­ti­ve Rich­tung treibt. Sie wis­sen, dass sie kei­ne Bröt­chen backen, kei­ne Häu­ser bau­en, kei­ne Krank­hei­ten hei­len und kei­ne Men­schen aus bren­nen­den Gebäu­den ret­ten, aber auf Kos­ten der­je­ni­gen, die sol­che Din­ge tun, ihren intel­lek­tu­el­len Hob­bys nach­ge­hen. Dies setzt sie unter Druck, ihr Stu­di­um und spä­ter ggf. ihre Stel­le zu legi­ti­mie­ren und Argu­men­te dafür zu erfin­den, dass sie einen wert­vol­len Bei­trag leis­te­ten. Da nun Gesell­schaft und Men­schen kom­pli­ziert sind und es schwie­rig ist, tat­säch­lich in nen­nens­wer­tem Umfang etwas zu ver­bes­sern, erscheint in die­ser Lage die Idee hoch­at­trak­tiv, allein durch das Negie­ren von Bestehen­dem zur Ver­bes­se­rung bei­tra­gen zu kön­nen. Kri­tik zu üben, die im Wesent­li­chen aus Nega­ti­on besteht, ist leicht und macht Spaß.

Man bekommt damit sogar nicht nur die ersehn­te Bestä­ti­gung, auch einen Bei­trag zu leis­ten, son­dern die­ser erscheint zusätz­lich als über­le­ge­ner Bei­trag. »Der Typ, der die Bröt­chen backt, backt zwar Bröt­chen, gut, das ist not­wen­dig, aber er tut nichts dafür, die gesell­schaft­li­che Ent­wick­lung vor­an­zu­trei­ben und das Leid auf der Welt zu bekämp­fen. Im Gegen­teil. Indem er die Leu­te mit sei­nen Bröt­chen satt macht, trägt er mit dazu bei, dass alles so bleibt. Ich tra­ge nicht dazu bei, dass alles so bleibt, weil mei­ne über­le­ge­ne Moral das nicht zulässt. Ich kri­ti­sie­re. Ich bin intel­li­gent und fürs Kri­ti­sie­ren aus­ge­bil­det. Ich kann bes­ser kri­ti­sie­ren als die meis­ten ande­ren. Ich wer­de drin­gen­der gebraucht als ein wei­te­rer Typ, der Bröt­chen backt.«

Der zen­tra­le magisch-reli­giö­se Motor des dia­lek­ti­schen Prin­zips der Ver­voll­komm­nung durch Nega­ti­on besteht in der Annah­me, dass sich das Voll­kom­me­ne von selbst ver­wirk­li­che, wenn man das Unvoll­kom­me­ne zer­stö­re. War­um soll­te es? In der Rea­li­tät setzt Ver­voll­komm­nung erst ein­mal vor­aus, dass etwas erschaf­fen und erhal­ten wird. Wer erschafft und erhält? Die Radi­ka­len nicht. Gleich­zei­tig bekämp­fen sie die, die es tun, sofern sie sich nicht am dia­lek­ti­schen Pro­zess betei­li­gen. So bleibt am Ende nur Zer­stö­rung. Das revo­lu­tio­nä­re Pro­jekt lebt von der Sub­stanz, indem es Din­ge angreift und auf­zehrt, die es selbst nicht geschaf­fen hat, nicht schaf­fen will und nicht schaf­fen könnte.

Es stimmt auch nicht, dass Kri­tik oder Nega­ti­on der Motor his­to­ri­schen Fort­schritts sei, wie es sich in die­sem Glau­bens­sys­tem dar­stellt und ich es mir frü­her ein­ge­re­det habe. Die längs­te Zeit der Mensch­heits­ge­schich­te hin­durch war es offen­sicht­lich, was die Men­schen brau­chen, was fehlt und was schmerzt, und unse­re Vor­fah­ren haben ihre Pro­ble­me gelöst, soweit sie dazu in der Lage waren. Es ist viel­mehr ein klas­si­sches Pro­blem von Mar­xis­ten, dass die Mas­sen ihrer Mei­nung nach nicht begrei­fen, wel­che Pro­ble­me sie eigent­lich haben. Die Mas­sen glau­ben, zufrie­den zu sein, oder glau­ben zumin­dest nicht an Revo­lu­ti­on und Uto­pie, und nun ist es an den Intel­lek­tu­el­len, durch ihr Kri­ti­sie­ren die Kul­tur zu desta­bi­li­sie­ren und die revo­lu­tio­nä­re Ener­gie zu erzeu­gen, die von selbst nicht ent­steht. Das ist kei­ne Grund­fi­gur his­to­ri­scher Ent­wick­lung, das ist eine Grund­fi­gur mar­xis­ti­scher Theo­rie seit Lenin, der die Annah­me ein­ge­führt hat, dass es eine revo­lu­tio­nä­re Avant­gar­de von Intel­lek­tu­el­len brau­che, um die Mas­sen zur Revo­lu­ti­on zu führen.

Man kann durch Kri­tik ver­bes­sern, wenn man die Rea­li­tät ernst nimmt und mit der Kri­tik den Anspruch an sich selbst ver­bin­det, kon­kret zu benen­nen, wie das Kri­ti­sier­te ver­bes­sert wer­den könn­te. Wich­tig ist hier das Wort »kon­kret«. Und man muss sich auch der Gegen­re­de stel­len, wenn bei­spiels­wei­se jemand sagt: »das haben wir schon ver­sucht« oder »das funk­tio­niert nicht, weil …«. Typi­scher­wei­se umschif­fen Akti­vis­ten sol­che Ein­wän­de, indem sie sie als Aus­druck eines Man­gels an Vor­stel­lungs­kraft oder als kon­ser­va­ti­ven Back­lash inter­pre­tie­ren. In der Sowjet­uni­on kur­sier­te die abwer­ten­de Bezeich­nung »Grenz­wert­ler« für Inge­nieu­re, die dar­auf hin­wie­sen, dass auch für das sozia­lis­ti­sche Pro­jekt phy­si­ka­li­sche Geset­ze gal­ten, so dass bei­spiels­wei­se eine Loko­mo­ti­ve nur sound­so­vie­le Wag­gons zie­hen konn­te. Manch­mal bezahl­ten sie dafür mit ihrem Leben. Man muss sich klar­ma­chen, was für ein erns­ter und gefähr­li­cher Vor­gang Rea­li­täts­ver­wei­ge­rung ist. An der Macht wird sie mörderisch.

Die klaffende Lücke

Das Pro­blem an der »dia­lek­ti­schen« Art von Kri­tik besteht auch dar­in, dass sie immer von der Uto­pie her denkt. Die Theo­re­ti­ker erwer­ben kei­ne Erfah­run­gen oder Kom­pe­ten­zen, die sie befä­hi­gen wür­den, auf dem Boden der Wirk­lich­keit ech­te Pro­ble­me zu lösen. Sie bli­cken statt­des­sen aus den luf­ti­gen Höhen des Idea­lis­mus her­ab auf die Gesell­schaft, sehen etwas, das ihnen Unbe­ha­gen ver­ur­sacht, tra­gen Argu­men­te dafür zusam­men, dass die unvoll­kom­me­ne sozia­le Pra­xis über­wun­den wer­den müs­se, und agi­tie­ren, zu die­ser Über­win­dung bei­zu­tra­gen. Aber sie haben kei­ne Lösun­gen und kei­nen Plan, wie nach der Revo­lu­ti­on die Uto­pie errich­tet wer­den solle.

Ich weiß noch, wie in alten Zei­ten ein Kom­men­ta­tor in mei­nem Blog die Fra­ge an mich hin­ter­ließ, wie denn der Weg zur bes­se­ren Welt aus­se­he, da ich ja die Bestehen­de so drin­gend über­win­den woll­te. Ich habe geant­wor­tet, dass ich das nicht wis­se, das kön­ne kein Ein­zel­ner wis­sen, es sei zu kom­pli­ziert, und – cle­ver! – wenn ich einen Plan vor­gä­be, wäre ich ja auto­ri­tär und ich wol­le, dass alles demo­kra­tisch aus­ge­han­delt wer­de. Wir müss­ten es auf dem Weg nach und nach her­aus­fin­den. Spä­ter, als ich vom Glau­ben abge­fal­len war, schäm­te ich mich dafür, mich damit zufrie­den­ge­ge­ben zu haben. Lasst uns alles ein­rei­ßen, ohne einen blas­sen Schim­mer zu haben, wie das zu etwas Bes­se­rem füh­ren soll! Und nun betont James Lind­say (neu­lich war es schon The­ma in sei­nem Pod­cast »Com­mu­nism does­n’t know how«), dass genau die­se klaf­fen­de Lücke cha­rak­te­ris­tisch für die revo­lu­tio­nä­re Lin­ke und auch bei ihren höchs­ten Intel­lek­tu­el­len zu fin­den ist, die nicht ein­mal ein Hehl dar­aus machen. Wir rei­ßen erst­mal alles ein, der Rest wird sich dann irgend­wie erge­ben. Wahnsinn.

Auf­grund die­ser Leer­stel­le bei den Uto­pis­ten, wo prak­ti­sche Lösun­gen sein soll­ten, emp­fiehlt Lind­say anders­wo als Stra­te­gie zur Abwehr einer woken Über­nah­me, die Akteu­re ganz unschul­dig zu fra­gen, wie ihre Vor­schlä­ge genau funk­tio­nie­ren und die Ver­hält­nis­se in der Orga­ni­sa­ti­on ver­bes­sern wer­den. Sie kön­nen das nicht beant­wor­ten, weil sie dar­auf spe­zia­li­siert sind, zu kri­ti­sie­ren, Macht­po­si­tio­nen zu erobern und ein­zu­rei­ßen. Prak­ti­ka­ble Lösun­gen sind nicht ihr Geschäft.

Sie machen Gen­der oder Ras­sis­mus zu ihrem Lebens­in­halt, ohne jemals auch nur die wich­tigs­ten Fak­ten und Sta­tis­ti­ken zu die­sen The­men nach­zu­schla­gen. Viel­fach wür­de ein ein­zi­ger Nach­mit­tag sorg­fäl­ti­ger Recher­che genü­gen, um ein jah­re- oder sogar lebens­lan­ges Wan­deln auf ideo­lo­gi­schen Holz­we­gen zu ver­hin­dern. Doch zu der Recher­che kommt es nicht, weil Ver­ste­hen nicht das Pro­gramm ist. Kri­ti­sie­ren und Über­win­den ist das Pro­gramm, alles ein­rei­ßen unter der Annah­me, dass die Welt hin­ter­her ein Stück bes­ser sei, mit Hegels Wort »auf­he­ben«. Ich glau­be, Lind­say legt des­halb sol­chen Wert dar­auf, die Dia­lek­tik als »Betriebs­sys­tem« der radi­ka­len Lin­ken ans Licht zu brin­gen, weil ihr Telos, ihre Ziel­set­zung eine ganz ande­re ist, als man außer­halb die­ses Glau­bens­sys­tem ver­mu­ten wür­de. Sie müs­sen sich mit Wis­sen, Wis­sen­schaft, Argu­men­ten usw. beschäf­ti­gen, um in der Gesell­schaft wir­ken zu kön­nen. Aber ums Ver­ste­hen geht es ihnen dabei nur soweit, wie sie die­ses Ver­ste­hen nut­zen kön­nen, um dem Ziel näher­zu­kom­men, das ein für alle Mal bereits fest­steht: durch Nega­ti­on alles zu desta­bi­li­sie­ren und schließ­lich abzu­schaf­fen, was nicht ihrer uto­pi­schen Ide­al­vor­stel­lung von der Gesell­schaft entspricht.

Ideo­lo­gi­sche Pro­gram­me wie die­ses müs­sen einem nicht voll bewusst sein, um dar­an teil­zu­neh­men. Sie wer­den größ­ten­teils nicht in Form von Theo­rie, son­dern in Form unmit­tel­ba­rer Pra­xis ange­eig­net, ver­in­ner­licht und als Grup­pen­kul­tur wei­ter­ent­wi­ckelt und wei­ter­ge­ge­ben. Men­schen kön­nen auch völ­lig funk­tio­na­le Mit­glie­der von Reli­gio­nen und Sek­ten sein, ohne dass ihnen alle theo­lo­gi­schen Details des betref­fen­den Glau­bens klar sein müss­ten. Sie kön­nen auch selbst nur Tei­le davon glau­ben und trotz­dem in der Glau­bens­ge­mein­schaft aktiv sein und zur Ver­brei­tung des Gesamt­sys­tems des Glau­bens in der Welt bei­tra­gen. Aus dem zutiefst erschre­cken­den Arti­kel »Lenin­think«, der mei­ne Über­le­gun­gen hier treff­lich ergänzt: »Im Leni­nis­mus geht es gera­de dar­um, dass nur eine klei­ne Anzahl von Leu­ten ver­ste­hen darf, was vor sich geht.«

Alles oder nichts

Ich wer­de das Gefühl nicht los, dass hin­ter all dem etwas Kind­li­ches steht. Auf der einen Sei­te die nai­ve Idee der glück­se­li­gen, pro­blem- und lei­dens­frei­en Voll­kom­men­heit, gesi­chert durch eine all­gü­ti­ge Staats­au­tori­tät (»Vater« Staat, heu­te eher Mut­ter), auf der ande­ren das trot­zi­ge Auf­stamp­fen gegen­über den unbe­que­men Kom­ple­xi­tä­ten der Wirk­lich­keit und die Wei­ge­rung, sich mit ihnen aus­ein­an­der­zu­set­zen. Man erkennt auch einen Gegen­satz zwi­schen den schlech­ten Eltern, gegen die sich die Rebel­li­on rich­tet (bei uns die »alten wei­ßen Män­ner«, bei Mao die »vier Alten«), und den idea­len Eltern, die der zu schaf­fen­de per­fek­tio­nier­te Staat ver­kör­pert. Die Fan­ta­sie des miss­han­del­ten Kin­des, als Baby ver­tauscht wor­den zu sein und eines Tages doch noch als Prinz oder Prin­zes­sin bei den ech­ten, güti­gen Eltern anzukommen.

Wahr­schein­lich ist es unnö­tig, das zu sagen, aber ich sage es trotz­dem: »kind­lich« heißt hier nicht »harm­los«. Die Gefüh­le eines Kin­des sind gewal­tig und die­se Akteu­re sind nicht mehr klein, macht­los und naiv wie Kin­der. Auf sol­chen Refle­xen hän­gen­zu­blei­ben ist patho­lo­gisch. Man kann sich ein Kind in trot­zi­ger Wut vor­stel­len, das alles ver­nünf­ti­ge Gut-Zure­den und Ver­han­deln an sich abpral­len lässt und der Welt ein Ulti­ma­tum stellt: alles oder nichts. Und die­se Hal­tung wird nun Motor einer poli­ti­schen Bewe­gung mit einem Dik­ta­tor an der Spitze.

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