Die doppelplusgute neue Sensibilität

Die­ser Text ist ursprüng­lich bei bei »Der Sand­wirt« erschie­nen.


Die For­de­rung der Ideo­lo­gie ist die, dass der Mensch – ein unbe­re­chen­ba­res und spon­ta­nes Wesen – auf­hört, als sol­cher zu exis­tie­ren, und dass alle Men­schen Ent­wick­lungs­ge­set­zen unter­wor­fen wer­den, die einer ideo­lo­gi­schen Wahr­heit fol­gen. Des­halb ver­langt die Abkehr von einer unzu­ver­läs­si­gen Rea­li­tät hin zu einer kohä­ren­ten Fan­ta­sie eine abso­lu­te Aus­lö­schung mensch­li­cher Spon­ta­ni­tät und Freiheit.“

Dies schrieb Roger Ber­ko­witz, aka­de­mi­scher Direk­tor des Han­nah Are­ndt Cen­ter for Poli­tics and Huma­ni­ties in einem Bei­trag über die Rea­li­täts­flucht des Tota­li­ta­ris­mus letz­tes Jahr für das Maga­zin „Quil­let­te“. Doch es könn­te sich genau­so gut um eine Auf­ga­ben­be­schrei­bung für einen der soge­nann­ten „Sen­si­ti­vi­ty Rea­der“ han­deln, die neu­er­dings in Ver­la­gen ihr Unwe­sen treiben.

Sen­si­ti­vi­ty Rea­der sind sozu­sa­gen die Polit­kom­mis­sa­re unter den Lek­to­ren. Sie küm­mern sich im Auf­trag von Ver­la­gen dar­um, dass ent­ste­hen­de Tex­te in poli­tisch kor­rek­ten Bah­nen blei­ben, oder bear­bei­ten sogar älte­re Wer­ke ent­spre­chend nach. In den letz­ten Wochen wur­de bei­spiels­wei­se bekannt, dass die berühm­ten Kin­der­bü­cher von Roald Dahl sowie die James-Bond-Roma­ne von Ian Fle­ming für Neu­aus­ga­ben poli­tisch kor­rekt über­ar­bei­tet wur­den. Immer­hin folg­te dar­auf der ver­dien­te öffent­li­che Aufschrei.

Wenn Verlage rassismuskritisch lesen lassen

Ende Janu­ar berich­te­te der Autor Sören Sieg in der FAZ aus­führ­lich über das Wüten einer Sen­si­ti­vi­ty Rea­de­rin im Manu­skript sei­nes Rei­se­be­richts über – oh je! – Afri­ka. Es gelang ihm schließ­lich nach mona­te­lan­gen Ver­hand­lun­gen, sei­nen Text mit rela­tiv mil­den Ände­run­gen durch­zu­bo­xen. Doch Wider­stän­di­ge und Whist­le­b­lower wie er sind immer nur die Spit­ze des Eisbergs.

Sie erin­nern sich, dass wir vie­le unse­rer Tex­te ras­sis­mus­kri­tisch lesen las­sen“, teil­te ihm der Ver­lag Pen­guin­Ran­dom­house mit. „Das ist ein wich­ti­ges Stan­dard­ver­fah­ren, das wir seit einer Wei­le eta­bliert und schon bei meh­re­ren Wer­ken ange­wen­det haben. Denn lei­der rut­schen immer wie­der Betrach­tun­gen, Hal­tun­gen, Ter­mi­ni und Über­le­gun­gen durch, die belei­di­gend für schwar­ze Men­schen und gene­rell struk­tu­rell benach­tei­lig­te Per­so­nen sein kön­nen. Das geschieht unbe­wusst. Gera­de des­halb und aus unse­rer Ver­ant­wor­tung als Ver­lag, Autor*innen und Krea­ti­ve gegen­über Peo­p­le of Color her­aus müs­sen wir uns Tex­te aber umso genau­er ansehen.“

Natür­lich geht es nicht dar­um, Belei­di­gun­gen zu ver­mei­den. Wenn hier etwas ein „wich­ti­ges Stan­dard­ver­fah­ren“ ist, dann für Woke-Akti­vis­ten der Ein­satz von tro­ja­ni­schen Pfer­den, wie wir ihn hier bei­spiel­haft vor uns haben: Im Bauch eines tri­via­len Anlie­gens, dem jeder zustim­men kann (nie­man­den unnö­tig belei­di­gen), wird ein umfas­sen­des ideo­lo­gi­sches Welt­bild mit Anspruch auf Allein­gül­tig­keit ein­ge­schmug­gelt. Schon durch die For­mu­lie­rung „gene­rell struk­tu­rell benach­tei­lig­te Per­so­nen“ wie­selt man sich aus der Beschrän­kung auf die „ras­sis­mus­kri­ti­sche“ Sor­ge über „schwar­ze Men­schen“ her­aus, denn struk­tu­rell benach­tei­ligt sind in die­sem Welt­bild alle außer gesun­den, wohl­ha­ben­den, gut­aus­se­hen­den und christ­li­chen hete­ro­se­xu­el­len wei­ßen Män­nern. Im Ergeb­nis ist das Sen­si­ti­vi­ty Rea­ding für alles zustän­dig. Doch mit dem Ver­weis auf „Ras­sis­mus“ und „schwar­ze Men­schen“ ver­kauft es sich am besten.

Erzählerischer Kahlschlag

Aus den Ein­grif­fen der Sen­si­ti­vi­ty Rea­de­rin spricht die ver­blüf­fen­de Selbst­ge­wiss­heit eines Men­schen, der genau weiß, wie die Welt wahr­zu­neh­men und zu deu­ten ist. Quel­le die­ses Wis­sens ist eine Ideo­lo­gie, die so schlicht und vor­her­sag­bar ist, dass ein Bot wie ChatGPT ihre Anwen­dung mit etwas Trai­ning mühe­los meis­tern wür­de. Übrig bleibt eine Lite­ra­tur, die alles Indi­vi­du­el­le, Über­ra­schen­de und Wider­stän­di­ge, das die Lek­tü­re zum Erleb­nis und Erkennt­nis­mo­ment machen könn­te, alles Authen­ti­sche und Leben­di­ge zuguns­ten ideo­lo­gi­scher Kon­for­mi­tät ver­lo­ren hat.

Dazu gehört erst ein­mal, alle Beschrei­bun­gen der äuße­ren Erschei­nung von Per­so­nen zu ent­fer­nen. Aus­drü­cke wie „hübsch“, „schlank“, „fül­lig“, „dick“, „hell­häu­tig“, „mit eben­mä­ßi­gen Gesichts­zü­gen“, „den Kopf glatt­ra­siert“, „groß“, „klein“, „stäm­mig“, „wuch­tig“ und „kräf­tig“ wur­den aus Siegs Manu­skript gestri­chen. Einen schwe­di­schen Mis­sio­nar namens Dani­el hat­te er so beschrie­ben: „Er hat eine hell­brau­ne Haut, Voll­glat­ze und eine spitz nach vorn gebo­ge­ne Nase, brei­te Schul­tern, stark wie ein Och­se, wie er selbst sagt, und ist ara­bi­scher Her­kunft.“ Übrig blieb: „Dani­el ist ara­bi­scher Her­kunft.“ Sieg prä­sen­tiert meh­re­re Bei­spie­le für sol­chen erzäh­le­ri­schen Kahl­schlag. Den beson­de­ren Zorn der Sen­si­ti­vi­ty Rea­de­rin erregt die Beschrei­bung des Äuße­ren von Frau­en durch den männ­li­chen Autor. In wun­der­schö­ner Block­wart-Dik­ti­on herrscht sie ihn an: „Sie wis­sen schon, dass Sie die Kör­per von Frau­en nicht zu kom­men­tie­ren haben!“ – Was erlau­ben Literatur?

Afrika gibt es gar nicht

Für sein Buch ist Sieg eini­ge Mona­te durch Äthio­pi­en, Ugan­da, Kenia, Tan­sa­nia, Süd­afri­ka und Gha­na gereist und hat sich als Couch­sur­fer unters Volk gemischt. Klingt nach bes­ten Vor­aus­set­zun­gen, um eini­ge inter­es­san­te Ein­drü­cke zu ver­mit­teln, wie Land und Leu­te so sind. Doch das sen­si­ble Lek­to­rat grätscht dazwi­schen: Man schrei­be ras­sis­ti­sche Ste­reo­ty­pe fort, wenn man behaup­te, dass Afri­ka­ner irgend­wie sei­en, zum Bei­spiel „leb­haft“. Ja, es gibt noch nicht ein­mal Afri­ka. Afri­ka ist eine kolo­nia­lis­ti­sche Kon­struk­ti­on. Des­halb wird das Wort „Afri­ka“ sen­si­bel aus dem Rei­se­be­richt über Afri­ka gestri­chen, wäh­rend die Ein­hei­mi­schen es selbst benutzen.

Auch ein Zitat des US-Öko­no­men Tho­mas Sowell fällt dem Rot­stift zum Opfer, in dem das bekann­te Bild des Las­ten­tra­gens auf dem Kopf mit Trans­port­pro­ble­men in Ver­bin­dung gebracht wird, die Sub­sa­ha­ra-Afri­ka in sei­ner Ent­wick­lung gebremst hät­ten. Dies näh­re das Kli­schee der Rück­stän­dig­keit Afri­kas, tadelt die Zen­so­rin. Eine Sze­ne beschreibt, wie der Autor in Beglei­tung sei­nes Soh­nes von Sol­da­ten mit Geweh­ren bedroht wird, weil er ein paar Bäu­me foto­gra­fiert hat. Auch das miss­fällt ihr: Mit der Erzäh­lung repro­du­zie­re er „kolo­ni­al-ras­sis­ti­sche Macht­struk­tu­ren“, unab­hän­gig davon, ob er das inten­die­re, und auch wenn die Geschich­te genau so pas­siert sei.

Allgegenwärtige Unterdrückung

In ihrem Buch „Zyni­sche Theo­rien“ beschrei­ben Helen Pluck­ro­se und James Lind­say detail­liert die post­mo­dern und neo­mar­xis­tisch gepräg­te Theo­rie­fa­mi­lie, aus der das Den­ken ent­springt, das wir „Woke­ness“ nen­nen und das bei den Ein­grif­fen der Sen­si­ti­vi­ty Rea­de­rin von Pen­guin­Ran­dom­house durch­scheint. Sie iden­ti­fi­zie­ren vier Leit­mo­ti­ve im post­mo­der­nis­ti­schen Den­ken, von denen ich hier zwei rele­van­te her­aus­grei­fe, um dem Gesche­hen näher auf den Grund zu gehen: die Macht der Spra­che sowie der Ver­lust des Indi­vi­du­el­len und des Uni­ver­sel­len

Die Macht der Spra­che ist fast selbst­er­klä­rend, da die­ses Leit­mo­tiv sämt­li­chen sprach­re­for­me­ri­schen Bemü­hun­gen ent­spre­chend infor­mier­ter Akti­vis­ten zugrun­de liegt, die wir aus dem All­tag ken­nen. Die Annah­me ist, dass Spra­che tief­grei­fend Wahr­neh­mung und Den­ken for­me und dadurch wesent­lich für die Auf­recht­erhal­tung der eben­so tief­grei­fend unter­drü­cke­ri­schen Gesell­schafts­struk­tur ver­ant­wort­lich sei. Spra­che und Macht gel­ten als untrenn­bar mit­ein­an­der ver­floch­ten. Dar­aus ergibt sich eine beson­ders per­fi­de Art von Unter­drü­ckung, die zugleich all­ge­gen­wär­tig und meist unsicht­bar ist. 

Wir haben es nicht nur mit herr­schen­den und beherrsch­ten Klas­sen zu tun, son­dern das Herr­schafts­ver­hält­nis ist in jedem Ein­zel­nen durch ver­in­ner­lich­te Sprach- und Denk­mus­ter prä­sent. Jeder, der an herr­schen­den „Dis­kur­sen“ teil­nimmt – also irgend­et­was sagt –, begeht damit sozu­sa­gen einen Herr­schafts­akt, indem er die­je­ni­gen Welt­deu­tun­gen repro­du­ziert, die Herr­schen­de pri­vi­le­gie­ren und ande­re ausschließen.

Wir müs­sen also beim Spre­chen und Schrei­ben wie auf Eier­scha­len gehen, um nicht unge­wollt Herr­schaft und Unter­drü­ckung zu repro­du­zie­ren. Streng genom­men bedarf es kri­ti­schen Bewusst­seins, also theo­re­ti­scher Schu­lung, um über­haupt eine Chan­ce zu haben, die­ser Fal­le zu ent­kom­men. Des­halb bemü­hen sich die Akti­vis­ten, mög­lichst vie­le Men­schen durch das Bil­dungs­sys­tem, Diver­si­ty-Trai­nings und so wei­ter sol­cher Schu­lung zu unterziehen.

Die Gruppe ist alles

Der Ver­lust des Indi­vi­du­el­len und des Uni­ver­sel­len folgt aus die­ser Auf­fas­sung von Spra­che und Men­schen­na­tur. Men­schen sind durch „Dis­kur­se“ und vor allem durch ihre jewei­li­ge Posi­ti­on in der Unter­drü­ckungs­ord­nung gewis­ser­ma­ßen pro­gram­miert, die Welt auf eine bestimm­te Wei­se wahr­zu­neh­men. Das Indi­vi­du­um ist immer nur Sprach­rohr sei­ner Iden­ti­täts­grup­pe, deren Iden­ti­tät sich ihrer spe­zi­fi­schen unter­drück­ten oder pri­vi­le­gier­ten Posi­ti­on ver­dankt. Wenn es mehr oder ande­res zu sein behaup­tet, hat es „fal­sches Bewusst­sein“ und macht sich etwas vor. Das heißt auch: Wer die spe­zi­fi­sche Unter­drü­ckung, die ein ande­rer erlei­det, nicht aus eige­ner Erfah­rung kennt, kann die­se letzt­lich nicht verstehen.

Das Uni­ver­sel­le auf der ande­ren Sei­te fällt weg, weil ver­schie­de­ne Kul­tu­ren ihre je eige­nen Spra­chen und Dis­kur­se haben. An etwas Uni­ver­sel­les zu glau­ben hie­ße, der Welt qua­si-kolo­nia­lis­tisch die eige­nen Vor­stel­lun­gen auf­zu­zwin­gen, die doch nur die Vor­ein­ge­nom­men­hei­ten der eige­nen sozia­len Posi­ti­on widerspiegeln.

Kunst und Kommunikation werden unmöglich

Die­ses Welt­bild macht Kunst unmög­lich. In der Kunst geht es gera­de dar­um, Begeg­nun­gen mit dem Uni­ver­sel­len im Indi­vi­du­el­len zu ermög­li­chen. Das macht ihren Zau­ber aus. Eine mir frem­de Per­son auf einem ande­ren Kon­ti­nent schreibt einen Roman, malt ein Bild oder kom­po­niert ein Lied. Das Werk hat für mich Neu­ig­keits­wert, aber ich fin­de dar­in auch etwas Ver­trau­tes. Ganz ohne Ver­trau­tes wäre es nicht inter­es­sant. Ich habe bei der Rezep­ti­on das Gefühl, mehr über Din­ge zu erfah­ren, von denen ich bereits wuss­te. Das bereits Gewuss­te ist das Uni­ver­sel­le der mensch­li­chen Erfah­rung, das ich mit dem Künst­ler tei­le, und das Mehr ist sein Indi­vi­du­el­les, das durch die Kunst­re­zep­ti­on mein Indi­vi­du­el­les berei­chert. Danach weiß ich mehr dar­über, was es heißt, ein Mensch zu sein, und habe mehr, in dem ich mich mit ande­ren ver­bun­den füh­len kann.

Woke­ness setzt all dem ein Ende. Sie leug­net, dass sich Ange­hö­ri­ge ver­schie­de­ner Iden­ti­täts­grup­pen auf einer Basis gemein­sa­mer Mensch­lich­keit begeg­nen kön­nen, also als Men­schen, die in ihrem Mensch­sein etwas gemein­sam haben und sich dar­über ver­stän­di­gen kön­nen – nicht nur trotz ihrer Dif­fe­ren­zen, son­dern gera­de auch durch die Dif­fe­ren­zen, denn sie machen den ande­ren inter­es­sant und ein­zig­ar­tig und sind zugleich Spiel­ar­ten des Vertrauten. 

Ande­re Essens­sit­ten sind immer noch Essens­sit­ten. Die Wahr­neh­mung des Gemein­sa­men ist die ent­schei­den­de Kraft, um Ras­sis­mus und Vor­ur­tei­le zu über­win­den. Das bezeugt der schwar­ze US-Musi­ker Daryl Davis, der unter ande­rem für sei­ne merk­wür­di­ge Ange­wohn­heit bekannt ist, sich mit Mit­glie­dern des Ku-Klux-Klan anzu­freun­den, die dar­auf­hin aus dem ras­sis­ti­schen Geheim­bund austreten.

Atemberaubende Hybris

Man muss die poli­ti­schen Post­mo­der­nis­ten für ihre tota­li­tä­ren Ambi­tio­nen fürch­ten – aber auch für die Armut ihres Men­schen­bil­des bemit­lei­den. Und bei­des hängt eng zusam­men. Ihre tota­li­tä­ren Ambi­tio­nen haben sie ja des­halb, weil sie den Men­schen nichts zutrau­en. Bezie­hungs­wei­se nur Schlech­tes. Men­schen ver­wen­den Kunst und ande­re For­men der Kom­mu­ni­ka­ti­on, um aus­zu­drü­cken, wie sie die­se gro­ße, kom­pli­zier­te, unüber­sicht­li­che Welt wahr­neh­men, und hel­fen dadurch ande­ren, sich ein voll­stän­di­ge­res und facet­ten­rei­che­res Bild von ihr zu for­men. Und das muss man sich nicht har­mo­nis­tisch vor­stel­len. Auch die Begeg­nung mit Dif­fe­ren­zen ist informativ.

Die­ser Pro­zess der Arti­ku­la­ti­on und wech­sel­sei­ti­gen Abstim­mung über die Wirk­lich­keit, immer aus­ge­hend von der authen­ti­schen Wahr­neh­mung der Indi­vi­du­en, ist essen­zi­el­ler Teil des Mensch­seins. Jeder trägt einen klei­nen Teil zur Deu­tung der Welt bei, die täg­lich, stünd­lich, minüt­lich neu gedeu­tet wer­den will. Unse­re Deu­tun­gen kon­kur­rie­ren mit­ein­an­der, kor­ri­gie­ren ein­an­der, knüp­fen anein­an­der an, wer­den fal­len­ge­las­sen oder zu Tei­len eines brei­te­ren Kon­sen­ses, und der – immer begrenz­te – Kon­sens ist eine Grund­la­ge, auf der wir zusam­men­kom­men und etwas auf­bau­en können. 

In atem­be­rau­ben­der Hybris maßen sich Akti­vis­ten (und Ver­la­ge) nun an, zu unter­stel­len, dass wir die Wirk­lich­keit bes­ser in den Griff bekä­men, wenn der Pro­zess der Aus­ein­an­der­set­zung mit ihr nicht mehr frei, son­dern von ihnen kon­trol­liert wäre. Sie hal­ten sich für qua­li­fi­ziert, zen­tral dar­über zu ent­schei­den, was ande­re sagen und hören dür­fen, was ande­re wis­sen müs­sen und den­ken sol­len, wel­che Infor­ma­tio­nen und Mit­tei­lun­gen ande­re wei­ter­brin­gen und wel­che nicht. 

Selbstmord aus Angst vor dem Tod

Sie wol­len den kor­rup­ten Sol­da­ten aus dem Rei­se­be­richt strei­chen, weil sie den Men­schen nicht zutrau­en, des­sen Auf­tritt gut genug ein­ord­nen zu kön­nen, um nicht anschlie­ßend ganz Afri­ka nach ihm zu beur­tei­len. Doch zum Ken­nen­ler­nen eines Lan­des gehö­ren auch die dunk­len Sei­ten, eben­so wie zum Ken­nen­ler­nen von Men­schen. Zur Wirk­lich­keit gehö­ren immer auch die sprich­wört­li­chen Ecken und Kan­ten; das Schmerz­li­che, das, wor­an man sich stößt, was man nicht ver­steht, was man nicht sehen und hören will. 

Woke­ness will all die­se Ecken und Kan­ten abschlei­fen, weil sie den Men­schen nicht zutraut, ver­nünf­tig mit ihnen umzu­ge­hen – und, wie man tota­li­ta­ris­mus­theo­re­tisch mut­ma­ßen kann, weil Woke­ness häu­fig von Per­so­nen vor­an­ge­trie­ben wird, die selbst tat­säch­lich nicht damit umge­hen können.

Doch das Sich-Ein­las­sen auf die­se Ecken und Kan­ten ist die ein­zi­ge Mög­lich­keit, Begeg­nung und Ver­stän­di­gung statt­fin­den zu las­sen. Dabei ist auch mal etwas unan­ge­nehm, ist auch mal jemand gekränkt, belei­digt, erschüt­tert oder auch wütend. Das gehört dazu. Das unbe­dingt aus­schlie­ßen zu wol­len wäre Selbst­mord aus Angst vor dem Tod. Wenn ein Buch belei­di­gend ist, kön­nen Men­schen es zurück­wei­sen. Wenn es sie wütend macht, kön­nen sie ihre Wut in Wor­ten oder eige­nen Wer­ken aus­drü­cken. Das ist Ver­stän­di­gung. Das ist Kul­tur. Das ist nötig. Solan­ge wir mit Wor­ten strei­ten, strei­ten wir nicht mit Fäusten.

Das Pro­jekt, durch zen­tra­le Zen­sur die gan­ze Kul­tur so zu berei­ni­gen, dass nie­mand mehr jemals eine Äuße­rung als anstö­ßig emp­fin­den kann, ist tota­li­tä­rer Wahn­sinn. Selbst wenn das mög­lich wäre, wür­de es nicht zu einer bes­se­ren Welt füh­ren, son­dern zu einer Welt vol­ler Men­schen, die über nichts Bedeu­tungs­vol­les mehr mit­ein­an­der kom­mu­ni­zie­ren, die nicht mehr rei­fen, die kei­nen Cha­rak­ter mehr for­men und die unfä­hig zur Aus­ein­an­der­set­zung mit der Wirk­lich­keit sind, die ja bereits an sich schmerz­haft und anstö­ßig ist, unab­hän­gig davon, wie man über sie spricht. 

Bereits jetzt lie­fern US-Uni­ver­si­tä­ten einen Vor­ge­schmack davon, wie das aus­sä­he: Erwach­se­ne Kin­der for­dern laut­stark, vor unan­ge­neh­men Wör­tern, The­men und Red­nern beschützt zu wer­den, die irgend­wie ihre „Sicher­heit“ bedro­hen sol­len, und fal­len in einer Wei­se über Dis­si­den­ten her, dass man meint, eine Neu­ver­fil­mung von „Die Wel­le“ vor sich zu haben. Eine Doku­men­ta­ti­on und Ana­ly­se die­ser Ent­wick­lung fin­det man in dem Buch „The Coddling of the Ame­ri­can Mind“ von Haidt und Lukianoff.

Eine selbsterfüllende Prophezeiung

Das Pro­jekt der Kul­tur­be­rei­ni­gung klei­det sich stets in die Spra­che von Mit­ge­fühl und „Sen­si­bi­li­tät“. Aber es bringt Men­schen her­vor, die so ver­letz­lich, neu­ro­tisch und nar­ziss­tisch sind, dass sie zu Mit­ge­fühl und Sen­si­bi­li­tät gar nicht mehr fähig sind, es sei denn zur Sen­si­bi­li­tät von Sek­tie­rern, die ein fei­nes Gespür für Ver­let­zun­gen ihrer Dok­trin haben. Was so gepräg­te Men­schen am wenigs­ten kön­nen, ist, sich über kul­tu­rel­le Dif­fe­ren­zen hin­weg mit ande­ren zu ver­stän­di­gen. Dazu braucht es eine halb­wegs dicke Haut, Groß­zü­gig­keit, Tole­ranz, Gra­zie, sozia­le Intel­li­genz, Neu­gier, die Bereit­schaft, klei­ne Miss­klän­ge zu über­se­hen und zu ver­ge­ben, eine Offen­heit für das Uni­ver­sel­le im Indi­vi­du­el­len. Also all das, was Men­schen mit der Hal­tung eines Sen­si­ti­vi­ty Rea­ders nicht mit­brin­gen, weil ihre Theo­rie ver­langt, dass sie über­all Unter­drü­ckung sehen und anprangern.

Ber­ko­witz schreibt mit Bezug auf Han­nah Are­ndt: „Weil eine Ideo­lo­gie ‚alle Fak­ti­zi­tät als Erfin­dung betrach­tet, kennt sie kein ver­läss­li­ches Kri­te­ri­um zur Unter­schei­dung zwi­schen Wahr­heit und Unwahr­heit mehr‘. Wäh­rend die Rea­li­tät zurück­weicht, orga­ni­sie­ren Ideo­lo­gien die Gesell­schaft für die Trans­for­ma­ti­on ihrer Ideen in geleb­te Wirklichkeit.“

Die Theo­rie wird zur selbst­er­fül­len­den Pro­phe­zei­ung. Sie behaup­tet, dass über die Grup­pen­gren­zen hin­weg kei­ne Kom­mu­ni­ka­ti­on mög­lich sei, und schafft Bedin­gun­gen, unter denen sie wirk­lich nicht mehr mög­lich ist.

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