Falsches Opfertum als soziales Kapital

Quil­let­te berich­tet über eine aktu­el­le Stu­die, die sich mit der Nei­gung beschäf­tigt, Opfer­tum zur Schau zu stel­len und sich dadurch Vor­tei­le zu ver­schaf­fen. Wie es scheint, ist die­se Nei­gung mit der soge­nann­ten dunk­len Tria­de der Per­sön­lich­keits­merk­ma­le ver­bun­den: Nar­ziss­mus, Machia­vel­lis­mus und Psychopathie.

Die­se und wei­te­re Erkennt­nis­se aus der Stu­die bil­den ein wei­te­res wert­vol­les Puz­zle­stück für ein Gesamt­bild, an dem unter ande­rem ich hier arbei­te. Die Psy­cho­lo­gie der Opfer­men­ta­li­tät habe ich in »Der ras­sis­ti­sche Anti­ras­sis­mus« als wich­ti­gen Fak­tor des Pro­blem­kom­ple­xes ange­spro­chen. In dem Text »Psy­cho­lo­gi­sche Hebel der Woke­ness«, der in mei­nem Buch ent­hal­ten ist, taucht das Opfer­tum als wesent­li­cher unter den beschrie­be­nen Hebeln auf. In »Pseu­do-Rea­li­tät« schließ­lich geht es um das Schar­nier zwi­schen psy­cho­lo­gi­schen Eigen­schaf­ten wie denen, die die dunk­le Tria­de abbil­det, und mäch­ti­gen Ideo­lo­gien, deren pri­mä­res sozia­les Kapi­tal behaup­te­tes Opfer­tum ist.

Daher doku­men­tie­re ich im Fol­gen­den Aus­zü­ge des Arti­kels in deut­scher Über­set­zung. Alle Links ste­hen so im Original.

Neu ver­öf­fent­lich­te For­schungs­er­geb­nis­se zei­gen, dass Men­schen, die häu­fi­ger ihr Opfer­tum (sei es real, über­trie­ben oder falsch) zur Schau stel­len, eher lügen und betrü­gen, um mate­ri­el­len Gewinn zu erzie­len, und eher ande­re ver­un­glimp­fen, um sich Vor­tei­le zu ver­schaf­fen. Die Nei­gung zum Zur­schau­stel­len von Opfer­tum ist mit zahl­rei­chen mora­lisch uner­wünsch­ten Per­sön­lich­keits­merk­ma­len ver­bun­den, dar­un­ter Nar­ziss­mus, Machia­vel­lis­mus (die Bereit­schaft, ande­re zum eige­nen Vor­teil zu mani­pu­lie­ren und aus­zu­nut­zen), eine Anspruchs­hal­tung sowie redu­zier­te Ehr­lich­keit und Bescheidenheit.

Wis­sen­schaft­ler des Immo­ra­li­ty Lab der Uni­ver­si­ty of Bri­tish Colum­bia haben eine Vic­tim-Signal­ing-Ska­la ent­wi­ckelt, die misst, wie häu­fig Men­schen ande­ren von Nach­tei­len, Pro­ble­men und Unglü­cken erzäh­len, unter denen sie lei­den. Ein Ergeb­nis war, dass Teil­neh­mer mit höhe­ren Wer­ten auf die­ser Ska­la eher Tugend zur Schau stell­ten – also äußer­li­che Anzei­chen eines tugend­haf­ten mora­li­schen Cha­rak­ters zeig­ten – und gleich­zei­tig weni­ger Wert auf ihre eige­ne mora­li­sche Iden­ti­tät leg­ten. Mit ande­ren Wor­ten: Die­je­ni­gen, die häu­fi­ger Opfer­tum zur Schau stel­len, waren mehr dar­an inter­es­siert, mora­lisch gut aus­zu­se­hen, aber weni­ger dar­an, mora­lisch gut zu sein, als die­je­ni­gen, die es weni­ger häu­fig tun.

In einer Stu­die lag die Wahr­schein­lich­keit, dass Teil­neh­mer mit hohen Wer­ten in der Nei­gung zum Zur­schau­stel­len von tugend­haf­tem Opfer­tum (die Kom­bi­na­ti­on aus dem Zur­schau­stel­len von Opfer­tum und von Tugend) im Durch­schnitt eher bei einer Münz­wurf­auf­ga­be logen und schum­mel­ten, um eine Bonus­zah­lung zu erhal­ten. In einer ande­ren Stu­die wur­den die Teil­neh­mer gebe­ten, sich ein Sze­na­rio vor­zu­stel­len, an dem ein Kol­le­ge (mit dem sie in Kon­kur­renz stan­den) betei­ligt war und sich »etwas merk­wür­dig anfühl­te«, obwohl sich der Kol­le­ge freund­lich ver­hielt. Die­je­ni­gen, die sich häu­fi­ger als tugend­haf­te Opfer prä­sen­tie­ren, inter­pre­tier­ten die­ses zwei­deu­ti­ge Ver­hal­ten eher als dis­kri­mi­nie­rend und mach­ten dem Kol­le­gen eher Vor­wür­fe wegen For­men von Fehl­ver­hal­ten ihnen gegen­über, die im Sze­na­rio nie erwähnt wurden.

In meh­re­ren die­ser Stu­di­en kon­trol­lier­ten die For­scher die Ergeb­nis­se auf Inter­na­li­sie­rung von Merk­ma­len mora­li­scher Tugend (d. h. tat­säch­li­cher Prio­ri­sie­rung von tugend­haf­tem Ver­hal­ten) und demo­gra­fi­schen Varia­blen, die mit einer erhöh­ten Gefähr­dung durch ech­te Opfer­er­fah­run­gen ver­bun­den sein könn­ten. Doch es blie­ben sta­tis­tisch signi­fi­kan­te Effek­te unab­hän­gig von die­sen Fak­to­ren erhal­ten. Dies lässt dar­auf schlie­ßen, dass es einen Per­sön­lich­keits­typ geben könn­te, der – unab­hän­gig von tat­säch­li­chen Opfer­er­fah­run­gen oder ver­in­ner­lich­ten Tugen­den – den Ein­zel­nen dazu nei­gen lässt, sich als tugend­haf­tes Opfer zu prä­sen­tie­ren, um Res­sour­cen von ande­ren zu erhalten.

In Über­ein­stim­mung mit die­ser Theo­rie wei­sen auch ande­re neue­re Arbei­ten dar­auf hin, dass Opfer­tum oder das anhal­ten­de Gefühl, dass das Selbst ein Opfer sei, ein sta­bi­les Per­sön­lich­keits­merk­mal sein könn­te. Die­ses Per­sön­lich­keits­merk­mal ist gekenn­zeich­net durch das Bedürf­nis, von ande­ren als Opfer aner­kannt zu wer­den und Mit­ge­fühl zu erhal­ten, Gefüh­le mora­li­scher Über­le­gen­heit und man­geln­de Empa­thie für das Lei­den ande­rer. Die­ses Per­sön­lich­keits­merk­mal scheint über Zeit- und Bezie­hungs­kon­tex­te hin­weg rela­tiv sta­bil zu sein und geht ein­her mit einer höhe­ren wahr­ge­nom­me­nen Schwe­re erlit­te­ner Krän­kun­gen, der Nei­gung, nach­tra­gend zu sein, Rach­sucht, dem Gefühl einer Berech­ti­gung zu unmo­ra­li­schem Han­deln, Grü­beln, Miss­trau­en, Neu­ro­ti­zis­mus und der Zuschrei­bung nega­ti­ver Eigen­schaf­ten zu anderen.

Im All­ge­mei­nen beloh­nen Men­schen die Zur­schau­stel­lung von Opfer­tum. In einer Stu­die bei­spiels­wei­se zeig­ten Teil­neh­mer eine grö­ße­re Spen­den­be­reit­schaft für eine jun­ge Frau, die mit einer GoFund­Me-Sei­te ihre Stu­di­en­ge­büh­ren finan­zie­ren woll­te, wenn sie auch ihre schwie­ri­ge Kind­heit erwähn­te, als wenn kei­ne zusätz­li­chen Details über zurück­lie­gen­des Lei­den ange­ge­ben wur­den. In vie­len Fäl­len ist ein sol­ches Ergeb­nis mora­lisch wün­schens­wert: Wir wol­len, dass Men­schen denen hel­fen, die lei­den und in beson­de­rer Not sind. Wenn jedoch bekannt ist, dass Men­schen durch die Pro­jek­ti­on bestimm­ter bio­gra­fi­scher Infor­ma­tio­nen Vor­tei­le erzie­len kön­nen, kann dies einen Anreiz für Oppor­tu­nis­ten bil­den, ihre eige­nen Pro­ble­me zu über­trei­ben oder fälsch­lich sol­che zu behaup­ten. Eben­so wie Men­schen Kom­pe­tenz vor­täu­schen kön­nen, um Sta­tus und Vor­tei­le zu erlan­gen (z. B. durch Doping im Sport oder die Nut­zung des Smart­phones im Pub Quiz), und Moral vor­täu­schen kön­nen, um sich einen guten Ruf zu ver­schaf­fen (z. B. indem sie sich in öffent­li­chen Kon­tex­ten bes­ser ver­hal­ten als in pri­va­ten Situa­tio­nen), so kön­nen sie auch Opfer­tum vor­täu­schen, um unver­dient Mit­ge­fühl und Ent­schä­di­gung zu erhalten.

Hier ist auch nicht zu ver­ges­sen, dass vie­le Behaup­tun­gen des Opfer­tums gegen­über Frem­den online erho­ben wer­den, ins­be­son­de­re über sozia­le Medi­en oder Fund­rai­sing-Web­sites. Dies kann die Reich­wei­te und Wirk­sam­keit unauf­rich­ti­ger Behaup­tun­gen erhö­hen, da sie sich an Frem­de rich­ten, die kei­ne Mög­lich­keit haben, Ver­dachts­mo­men­ten bezüg­lich fal­schen Opfer­tums nach­zu­ge­hen oder über­haupt Ver­dacht zu schöp­fen, ohne das Risi­ko ein­zu­ge­hen, kalt­her­zig zu erscheinen.

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