Moralisierung macht blind für Kausalität

Für den hier ange­kün­dig­ten Arti­kel über das Ver­hält­nis von Links und Rechts zu Gut und Böse beschäf­ti­ge ich mich gera­de mit dem inter­es­san­ten Buch »Evil: Insi­de Human Vio­lence and Cruel­ty« (»Vom Bösen: War­um es mensch­li­che Grau­sam­keit gibt«) von dem Sozi­al­psy­cho­lo­gen Roy Bau­meis­ter. Aus dem Arti­kel wer­den wahr­schein­lich meh­re­re und ich brau­che noch Zeit dafür. (Nach­trag: der ers­te ist »War­um wir ideo­lo­gi­sche Geg­ner als bös­ar­tig wahr­neh­men«.) In der Zwi­schen­zeit brach­te ein Abschnitt aus besag­tem Buch mir eine Beob­ach­tung wie­der stär­ker zu Bewusst­sein, die ich schon öfter ange­stellt hat­te und im Fol­gen­den nachzeichne.

Es geht um die Beob­ach­tung, dass wir nicht nur schlecht dar­in sind, in Kau­sa­li­tä­ten zu den­ken, also in Ursa­chen und Wir­kun­gen, son­dern dass wir es bei mora­li­sier­ten oder sakra­li­sier­ten The­men anschei­nend gar nicht ernst­haft ver­su­chen. Das ist para­dox, denn wenn wir Zie­le ver­fol­gen, die uns hei­lig sind, soll­ten wir uns beson­ders ver­ge­wis­sern wol­len, dass unse­re Mit­tel geeig­net sind, die Zie­le zu errei­chen. Doch das scheint nicht der Fall zu sein. Im Gegen­teil zei­gen wir ein auf­fäl­li­ges Des­in­ter­es­se bis hin zu akti­ver Abnei­gung gegen eine Kri­tik der Mittel.

Bau­meis­ter erzählt die Geschich­te der nord­ko­rea­ni­schen Agen­tin Kim Hyon-hui, die im Jahr 1987 eine Bom­be an Bord eines süd­ko­rea­ni­schen Pas­sa­gier­flug­zeugs plat­zier­te und damit 115 Men­schen töte­te. Hin­sicht­lich der Natur des Bösen sind hier eine gan­ze Rei­he von Aspek­ten inter­es­sant. Einer der her­vor­ste­chen­den ist, dass Täter sich selbst prak­tisch nie als böse sehen. Dar­auf gehe ich in spä­te­ren Tex­ten genau­er ein, in denen ich die Kern­aus­sa­gen von Bau­meis­ters Buch wie­der­ge­ben werde. 

Magisches Denken in der Politik – ein Extrembeispiel

Bei der Lek­tü­re des Abschnitts über Kim Hyon-hui stach mir jedoch noch etwas ande­res ins Auge: die unplau­si­ble Stra­te­gie, die Nord­ko­rea mit dem Ter­ror­an­schlag ver­folg­te, in Ver­bin­dung mit der Tat­sa­che, dass Kim die­se Stra­te­gie nicht in Fra­ge stell­te. Es scheint mir dras­tisch einen Aspekt der mensch­li­chen Psy­che zu illus­trie­ren, der in der Moder­ne dau­er­haft Ärger und Cha­os stif­tet: die Nei­gung zu magi­schem Den­ken gera­de dort, wo hei­li­ge Wer­te im Spiel sind. Ich benut­ze den Begriff »magi­sches Den­ken« in sei­nem kon­ven­tio­nel­len Sinn: ein Den­ken auf Basis der Annah­me, dass sich durch mensch­li­ches Wol­len die Wirk­lich­keit beein­flus­sen lasse.

Dies wer­de ich wei­ter unten erläu­tern. Hier erst ein­mal der von mir über­setz­te Aus­schnitt aus dem Buch.

Einer der größ­ten Tage ihres Lebens kam, als sie in das Haupt­quar­tier des natio­na­len Aus­lands­ge­heim­diens­tes ein­be­ru­fen wur­de. Der Direk­tor über­trug ihr eine Mis­si­on, von der er sag­te, dass sie auf hand­ge­schrie­be­nen Befeh­len des Lie­ben Füh­rers selbst beruh­te, was über­ra­gen­de Wich­tig­keit anzeig­te. Tat­säch­lich, so der Direk­tor, war dies wahr­schein­lich die wich­tigs­te Mis­si­on, die der Aus­lands­ge­heim­dienst je unter­nom­men hat­te. Sie wür­de »unser gan­zes Schick­sal als Nati­on« ent­schei­den. Sie und ihr männ­li­cher Genos­se soll­ten ein süd­ko­rea­ni­sches Flug­zeug zer­stö­ren. Der Direk­tor erklär­te, dass dies eine Stim­mung des Cha­os und der Unge­wiss­heit erzeu­gen wür­de, was zur Absa­ge der geplan­ten Olym­pi­schen Spie­le 1988 in Süd­ko­rea füh­ren wür­de. Dies wie­der­um wür­de zur Wie­der­ver­ei­ni­gung Kore­as füh­ren, was »das gro­ße Ziel unse­rer Gene­ra­ti­on« sei. Wenn sie Erfolg hät­te, wür­de sie zur Natio­nal­hel­din wer­den. Sie könn­te zu ihrer Fami­lie zurück­keh­ren und sich »in jedem Luxus, den die Par­tei bie­ten konn­te«, zur Ruhe set­zen. Sie schrieb spä­ter, dass sie nie genau ver­stand, auf wel­che Wei­se die Spren­gung eines Flug­zeugs vol­ler Tou­ris­ten zur Wie­der­ver­ei­ni­gung füh­ren soll­te, doch sie stell­te den Direk­tor nicht in Fra­ge, noch nicht ein­mal in ihrem eige­nen Geist. Sie wuss­te, dass es in der Poli­tik vie­les gab, was sie nicht ver­stand, und sie hat­te Ver­trau­en in ihre natio­na­len Füh­rungs­per­so­nen und Vorgesetzten.

Die jun­ge Frau wur­de von Gefüh­len ergrif­fen: Ehr­furcht, Angst, Dank­bar­keit, Ver­ant­wor­tung, Patriotismus. …

… ihr ter­ro­ris­ti­scher Akt war von den höchs­ten Idea­len und Prin­zi­pi­en moti­viert. Es war kein spon­ta­ner Aus­druck des Has­ses gegen ihre Opfer, obwohl sie pflicht­be­wusst gelernt hat­te, Men­schen aus nicht­kom­mu­nis­ti­schen Län­dern als Fein­de zu betrach­ten. Sie war nicht auf per­sön­li­che Berei­che­rung aus, obwohl ihr Beloh­nun­gen ver­spro­chen wor­den waren. Ihr Haupt­an­lie­gen war, ihrem Land zu die­nen. Sie lieb­te ihr Land, sie ver­trau­te sei­ner Füh­rung und ihren Vor­ge­setz­ten, und sie glaub­te auf­rich­tig, dass ihre Mis­si­on hel­fen wür­de, eine tri­um­pha­le Wie­der­ver­ei­ni­gung Kore­as her­bei­zu­füh­ren, auf eine Art, die sie nicht genau ver­stand. Im Rück­blick begang sie eine schreck­li­che, sinn­lo­se Grau­sam­keit, aber zur Zeit des Gesche­hens dach­te sie, sie tue etwas Gutes: nicht nur etwas Akzep­ta­bles und Ver­tret­ba­res, son­dern etwas ent­schie­den und ein­deu­tig Gutes. Wie wir sehen wer­den, wer­den vie­le böse Taten von Men­schen ver­übt, die glau­ben, etwas im höchs­ten Maß Gutes zu tun.

Wie gesagt, man kann hier­an vie­les auf­zei­gen und dis­ku­tie­ren. Was mir aber ins Auge stach und wor­auf ich hier hin­aus­will, ist, dass sie gar nicht ver­steht, wie ihre Mis­si­on das ange­streb­te Ziel her­bei­füh­ren soll, aber auch kein gro­ßes Bedürf­nis zeigt, es zu ver­ste­hen, obwohl es sich um eine so extre­me, alles ver­än­dern­de Tat handelt.

Ich brin­ge mehr als hun­dert Men­schen um, und dabei ist es okay für mich, dass ich gar nicht so genau weiß, warum?

Doch man muss fei­ner dif­fe­ren­zie­ren. In gewis­sem Sinn weiß sie durch­aus, war­um. Weil der Dienst an ihrem Land es erfor­dert. Weil es Teil einer Stra­te­gie ist, die die klu­ge Füh­rung ihres Lan­des ent­schie­den hat. Weil es ihre Auf­ga­be und ihre Ver­ant­wor­tung ist, ihren Dienst so treu und so gut zu ver­rich­ten wie mög­lich. Weil die Wie­der­ver­ei­ni­gung das höchs­te Ziel ist.

Sie weiß, was das Ziel der Mis­si­on ist. In die­sem Sinn, weiß sie, war­um sie es tut. Was sie nicht weiß ist, wie die gewähl­ten Mit­tel die­ses Ziel errei­chen sol­len. Und es beun­ru­higt sie nicht, dies nicht zu wissen.

Wie soll das funktionieren?

Das erin­nert mich an meh­re­re pro­mi­nen­te Erzäh­lun­gen in der heu­ti­gen Poli­tik, die alle um hei­li­ge Wer­te krei­sen, was ver­mut­lich kein Zufall ist. Bei all die­sen Erzäh­lun­gen müss­te man sich eigent­lich fra­gen: wie soll das eigent­lich funk­tio­nie­ren? Aber man tut es nicht.

Die Ener­gie­wen­de. Wann wer­den die Erneu­er­ba­ren tech­nisch aus­ge­reift und wirt­schaft­lich sein, wenn über­haupt? Wie sieht die Öko­bi­lanz eines E‑Autos, einer Wind­farm, einer Bat­te­rie Solar­zel­len aus, wenn man ihre Pro­duk­ti­on, Ent­sor­gung und Neben­ef­fek­te wie das Schred­dern von Vögeln und Insek­ten ein­be­zieht? Wie kön­nen dras­ti­sche Maß­nah­men in Deutsch­land, das nur knapp über zwei Pro­zent zum glo­ba­len CO2-Aus­stoß bei­trägt, jemals so wich­tig sein, wie Kli­ma­ak­ti­vis­ten behaup­ten? Was ist, wenn die Erneu­er­ba­ren nicht rei­chen und Deutsch­land Strom aus dem Aus­land impor­tie­ren muss, der schmut­zi­ger pro­du­ziert wur­de als er mit deut­schen Koh­le- oder Atom­kraft­wer­ken pro­du­ziert wor­den wäre?

Der Kampf gegen Rechts. Wenn man sich die Publi­ka­tio­nen bei­spiels­wei­se der Ama­deu-Anto­nio-Stif­tung oder Ver­an­stal­tun­gen wie die wir­s­ind­mehr-Kon­zer­te anschaut, dann ist glas­klar, dass es sich um Pro­duk­tio­nen von Lin­ken für Lin­ke han­delt. Durch wel­chen Mecha­nis­mus soll dies einem Wachs­tum des rech­ten Lagers ent­ge­gen­wir­ken? Lässt sich davon irgend ein Mensch errei­chen, der rechts ist oder mit rechts sym­pa­thi­siert? Min­des­tens genau­so wahr­schein­lich ist, dass ihn die Rigo­ro­si­tät der Feind­er­klä­rung noch radi­ka­li­siert oder zumin­dest glei­cher­ma­ßen auf sei­nem Stand­punkt behar­ren lässt. Wer­den sich nach rechts nei­gen­de Chem­nit­zer davon beein­dru­cken las­sen, dass man Her­bert Grö­ne­mey­er ein­fliegt, einen im Wesent­li­chen unpo­li­ti­schen Künst­ler, der seit Jahr­zehn­ten als Mil­lio­när in Lon­don lebt? Ein­schlä­gig ist hier auch die Fra­ge nach dem Ver­hält­nis zwi­schen Zen­sur­be­stre­bun­gen ver­schie­dens­ter Art und dem Strei­sand-Effekt sowie all­ge­mein das Stich­wort Reaktanz.

Trol­le allüberall

Open Bor­ders. Die Par­tei­nah­me für eine groß­zü­gi­ge Migra­ti­ons­po­li­tik begrün­det sich durch Mit­ge­fühl und die mora­li­sche Pflicht zum Hel­fen gegen­über den Migran­ten. Doch schon vie­le Ein­hei­mi­sche, die eine ein­hei­mi­sche Schul­bil­dung genos­sen haben, fin­den kei­ne exis­tenz­si­chern­de und halb­wegs erfül­len­de Arbeit. Gleich­zei­tig lässt die Ein­wan­de­rung die Rech­te erstar­ken und ver­schärft die inner­ge­sell­schaft­li­chen Span­nun­gen. Immer wie­der ist zu hören, dass die Schleu­ser und Schlep­per in Nord­afri­ka Migran­ten mit erfun­de­nen Ver­spre­chun­gen über ein Luxus­le­ben ködern, das in Euro­pa auf sie war­te. Tut man nun den Migran­ten einen Gefal­len, wenn man zulässt, dass sie in die­ser Erwar­tung ihr letz­tes Geld für die Schlep­per aus­ge­ben und dann in einer ärm­li­chen und per­spek­tiv­lo­sen sozia­len Lage in Euro­pa gestran­det sind? Durch wel­chen Wirk­me­cha­nis­mus soll die Auf­nah­me von mög­lichst vie­len Migran­ten gegen den Wil­len eines wach­sen­den Teils der ein­hei­mi­schen Bevöl­ke­rung zu einem guten Leben für die­se Migran­ten führen?

Um nicht miss­ver­stan­den zu wer­den: Selbst­ver­ständ­lich behaup­te ich kei­ne mora­li­sche Äqui­va­lenz zwi­schen der nord­ko­rea­ni­schen Agen­tin und den­je­ni­gen, die sich für die­se drei Anlie­gen ein­set­zen. Jene hat vie­le Men­schen getö­tet, die­se haben nichts der­glei­chen, und die Absich­ten hin­ter die­sen Anlie­gen sind an sich gut, men­schen­freund­lich und ehrenhaft.

Auch behaup­te ich nicht, zu wis­sen, dass der betref­fen­de Akti­vis­mus mehr scha­det als nützt oder dass die kon­tra­pro­duk­ti­ven Wir­kun­gen, deren Mög­lich­keit ich ange­deu­tet habe, wirk­lich ein­tre­ten. Es han­delt sich um kom­ple­xe Fra­gen und man könn­te umfang­reich und über­zeu­gend für bei­de Sei­ten argumentieren.

Es geht mir ein­zig dar­um, dass in der öffent­li­chen Dis­kus­si­on und vor allem von denen, die sich die jewei­li­gen Anlie­gen auf die Fah­nen geschrie­ben haben, die Fra­ge nach dem Wirk­me­cha­nis­mus kaum je ernst­haft gestellt wird. Ich behaup­te nicht, die wah­ren Mecha­nis­men umfas­send zu ken­nen. Ich wun­de­re mich viel­mehr dar­über, dass wir über die real gege­be­nen Wirk­me­cha­nis­men wenig bis über­haupt nicht reden.

Dies ist die Par­al­le­le zum Fall der Agen­tin, auf die ich hin­aus will. Dass sie einen Mas­sen­mord began­gen hat, macht ihr Bei­spiel zu einem Extrem­fall, was sie von Akti­vis­ten kate­go­risch unter­schei­det, aber zugleich den ent­schei­den­den Punkt kla­rer erkenn­bar macht. 

Selbst bei einer Tat, wie sie kaum extre­mer sein könn­te, war es kein Pro­blem für sie, die Fra­ge nach der Kau­sa­li­tät, nach dem Wirk­me­cha­nis­mus zu igno­rie­ren, durch den ihre Tat zum Ziel füh­ren soll­te. Ich tue etwas außer­ge­wöhn­lich und unzwei­fel­haft Gutes, so sinn­ge­mäß ihr Den­ken, da bin ich sicher, auch wenn ich gar nicht weiß, wie das über­haupt funk­tio­nie­ren soll.

Mir ist klar, dass Akti­vis­ten in der Lage sein wer­den, irgend­wel­che Wirk­me­cha­nis­men zu benen­nen, wenn man sie zur Rede stell­te. Aber das ist faden­schei­nig. Men­schen sind immer in der Lage, ihre gefühl­ten Wahr­hei­ten zu ratio­na­li­sie­ren. Das ist kein Aus­druck eines ech­ten Nach­den­kens über das Pro­blem, son­dern eine Maß­nah­me zur Gesichts­wah­rung und Auf­recht­erhal­tung des Anscheins der Ratio­na­li­tät, auch in den eige­nen Augen.

Aktive Vermeidung einer Kritik der Mittel

Anschei­nend gibt es eine gewis­se Unver­träg­lich­keit zwi­schen Mora­li­sie­rung oder Sakra­li­sie­rung und dem Den­ken in Ursa­chen und Wir­kun­gen. Men­schen las­sen sich von der emp­fun­de­nen mora­li­schen Qua­li­tät ihrer Zie­le blen­den, so dass sie unwill­kür­lich glau­ben, der Wil­le, die­sem guten Ziel zu die­nen, sei Gewähr genug für die Eig­nung der gewähl­ten Mit­tel. Eine Gefühls­lo­gik, die besagt: Wenn ich das Gute will und im Ein­klang mit die­sem Wil­len hand­le, dann bewir­ke ich auch das Gute. Das ist magi­sches Denken.

Eigent­lich müss­ten gera­de die­je­ni­gen, denen ein Anlie­gen wie der Kampf gegen Rechts sehr wich­tig ist, beson­ders kri­tisch danach fra­gen, ob die ein­ge­setz­ten Mit­tel wirk­sam sind. Es spricht eini­ges dafür, dass sie auch kon­tra­pro­duk­tiv sein kön­nen. Müss­te ein enga­gier­ter Kämp­fer gegen Rechts also nicht um jeden Preis aus­schlie­ßen wol­len, dass er ver­se­hent­lich die Rech­te stär­ker macht? Und müss­te er nicht dazu einen extra stren­gen Blick auf die im Kampf gegen Rechts ein­ge­setz­ten Mit­tel wer­fen?

Statt­des­sen pas­siert etwas ganz ande­res und Gegen­tei­li­ges. Wenn ich wie oben die Vor­ge­hens­wei­sen von Klima‑, Gegen-Rechts- und Migra­ti­ons­ak­ti­vis­ten in Zwei­fel zie­he, springt der mora­li­sche Elek­tro­ma­gnet an und ich gera­te in den Ver­dacht, ein Feind oder Ver­rä­ter zu sein. Du zwei­felst an der Ener­gie­wen­de – bist du etwa ein Kli­ma­leug­ner? Du zwei­felst am Kampf gegen Rechts – bist du etwa rechts? Du zwei­felst an den Mög­lich­kei­ten der Inte­gra­ti­on – hast du etwas gegen Ausländer?

Anstatt sich durch rigo­ro­se Kri­tik zu ver­ge­wis­sern, dass die ein­ge­setz­ten Mit­tel geeig­net sind, die hei­li­gen Zie­le zu errei­chen, wird Kri­tik aktiv unter­drückt. Dadurch bleibt auch die Mög­lich­keit zur Ver­ge­wis­se­rung über die Mit­tel auf der Stre­cke. Eine Para­do­xie. Die Zie­le sind hei­lig, und des­halb nimmt man in Kauf, dass die Arbeit an ihrer Ver­wirk­li­chung wir­kungs­los oder kon­tra­pro­duk­tiv ist.

Eine offen­sicht­li­che Erklä­rung dafür ist, dass Kri­tik an den Mit­teln unwei­ger­lich in einen Ziel­kon­flikt führt. Wenn jemand zei­gen kann, dass die Mit­tel einer Initia­ti­ve gegen Rechts ganz oder teil­wei­se unge­eig­net sind, dann geht das auf Kos­ten der Legi­ti­mi­tät die­ser Initia­ti­ve. Sie ver­liert Auto­ri­tät und womög­lich auch För­der­mit­tel. Wer ihren Kampf für wich­tig hält, wird das nicht wol­len. Wer dage­gen rechts ist, wird es begrü­ßen. Daher ist der Ver­dacht nicht abwe­gig, Mit­tel­kri­tik sei in Wahr­heit durch die Absicht moti­viert, der Initia­ti­ve zu schaden. 

Dar­aus aber folgt eine intui­ti­ve Gleich­set­zung von mora­li­schem Cha­rak­ter mit blin­dem Glau­ben. Nie­mand will inmit­ten eines mora­lisch legi­ti­mier­ten Akti­vis­mus in den Ver­dacht gera­ten, ein Ver­rä­ter zu sein. Für den ein­zel­nen ist es ratio­nal und oppor­tun, unbe­irrt mit­zu­ma­chen, auch wenn die ver­folg­ten Stra­te­gien kon­tra­pro­duk­tiv sind. Kri­tik zu äußern ist dage­gen eine unat­trak­ti­ve Opti­on. Man ris­kiert, in Ungna­de zu fal­len, und die Chan­ce, dass auf­grund geäu­ßer­ter Kri­tik die gan­ze Maschi­ne­rie ihre Ver­fah­rens­wei­se ändert, ist gering.

Man kann es auch so sagen: Die Kos­ten kon­tra­pro­duk­ti­ven Akti­vis­mus‹ ver­tei­len sich auf alle; die Kos­ten mei­nes Aus­schlus­ses aus der Her­de tra­ge ich allein.

Glaubenskrieger im Selbstmissverständnis

Auf einer tie­fe­ren Ebe­ne ist die­se Abkopp­lung des mora­lisch begrün­de­ten Han­delns vom Den­ken in Kau­sa­li­tä­ten auch aus evo­lu­ti­ons­bio­lo­gi­scher Sicht plau­si­bel. Kau­sa­li­tät im wis­sen­schaft­li­chen Sinn ist eine his­to­risch sehr jun­ger Idee; voll aus­ge­prägt ent­steht sie erst in der Moder­ne. Ich mei­ne die Vor­stel­lung, dass die Ele­men­te der Wirk­lich­keit in gesetz­mä­ßi­ger Wei­se auf­ein­an­der wir­ken und dass die­se Gesetz­mä­ßig­kei­ten unab­hän­gig davon sind, was Men­schen wol­len, wün­schen und fürchten.

Über die annä­hernd gesam­te Dau­er der bis­he­ri­gen Evo­lu­ti­ons­ge­schich­te war dies nicht die Art und Wei­se, wie Men­schen die Wirk­lich­keit erlebt haben. Die­ses Kau­sa­li­täts­den­ken stand ihnen über Jahr­tau­sen­de nicht zur Ver­fü­gung. In Anbe­tracht des­sen, wie selbst­ver­ständ­lich es uns heu­te erscheint, ist erstaun­lich, wie spät erst es ent­stan­den ist.

Statt­des­sen erschien die Welt die längs­te Zeit über pri­mär als eine Are­na von Akteu­ren mit Absich­ten inmit­ten einer Natur, die sich beloh­nend oder bestra­fend ver­hält, sanft oder wütend, gna­den­los oder ver­ge­bend, je nach Lau­ne und Kar­ma. Die Über­le­bens­stra­te­gie der Men­schen war nicht, die Mecha­nis­men der Kau­sa­li­tät zu ver­ste­hen und zu mani­pu­lie­ren, die ihre Welt unbe­merkt und indif­fe­rent regier­ten. Ihre Stra­te­gie war, sich zu Glau­bens­ge­mein­schaf­ten zusam­men­zu­schlie­ßen, bis in den Tod zusam­men­zu­hal­ten und Fein­de zu bekämp­fen. Unse­re Natur drängt uns wei­ter­hin mit Macht dazu, dies zu tun, aber wir machen uns das nicht klar.

Hin­zu kommt, dass die Kom­ple­xi­tät der mensch­li­chen Wirk­lich­keit in der Moder­ne rapi­de und expo­nen­ti­ell zuge­nom­men hat. Der Fall der nord­ko­rea­ni­schen Agen­tin und auch mei­ne drei Bei­spie­le krei­sen um Ver­su­che, im Zusam­men­hang kom­ple­xer sozia­ler Sys­te­me das Ver­hal­ten von Men­schen vor­her­zu­sa­gen und zu mani­pu­lie­ren. In Zei­ten rela­tiv simp­ler, natur­na­her Stam­mes­ge­sell­schaf­ten stell­ten sich kei­ne Pro­ble­me auf die­sem Komplexitätsniveau.

Kom­ple­xe Gesell­schaf­ten sind der Para­de­fall kom­ple­xer Sys­te­me und der aller­ers­te Gesche­hens­be­reich der Wirk­lich­keit, in dem steu­ern­de Ein­grif­fe unbe­ab­sich­tig­te Fol­gen zei­ti­gen. Nein, dar­aus soll man nicht schluss­fol­gern, dass alles ver­geb­lich ist. Aber dass man hoch­kom­ple­xe Zusam­men­hän­ge so behan­delt, als wären ihre Kau­sa­li­tä­ten eine simp­le und offen­sicht­li­che Selbst­ver­ständ­lich­keit, ist Aus­druck einer gigan­ti­schen Selbst­täu­schung infol­ge der Tat­sa­che, dass sich unse­re neu­ro­na­le Hard­ware in einer Wirk­lich­keit zurecht­zu­fin­den ver­sucht, für die sie nicht gemacht ist.

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3 Kommentare

  1. Der Arti­kel behan­delt ein Phä­no­men, das mich auch schon vie­le Gedan­ken gekos­tet hat.

    Ich war ein paar Mal in mei­nem Leben in poli­ti­schen Grup­pen aktiv, und habe selbst erlebt, wie man aus­ge­sto­ßen wird, wenn man es wagt, Selbst­kri­tik zu äußern. Dabei dient es dem Anlie­gen, wenn man eige­ne Schwach­stel­len anspricht.

    Ich hat­te es kürz­lich in einem ande­ren Kon­men­tar ange­spro­chen, ich glau­be, man kommt der Lösung näher, wenn man ritua­li­sier­tes Han­deln als Kriegs­vor­be­rei­tung versteht.

    Im Arti­kel wird das kurz gestreift:
    Die Über­le­bens­stra­te­gie der Men­schen war nicht, die Mecha­nis­men der Kau­sa­li­tät zu ver­ste­hen und zu mani­pu­lie­ren, die ihre Welt unbe­merkt und indif­fe­rent regier­ten. Ihre Stra­te­gie war, sich zu Glau­bens­ge­mein­schaf­ten zusam­men­zu­schlie­ßen, bis in den Tod zusam­men­zu­hal­ten und Fein­de zu bekämpfen.

    Wahr­schein­lich fal­len Men­schen sehr schnell in den Kriegs­mo­dus, da es evo­lu­tio­när vor­teil­haft war. Es kommt da auf durch­dach­te, effek­ti­ve Stra­te­gien viel­leicht weni­ger an als auf Kampf­mo­ral, Kampf­lust, Opfer­be­reit­schaft, Schmerz­un­ter­drü­ckung, Furcht­un­ter­drü­ckung, maxi­ma­le Brutalität.

    Im ande­ren Kom­men­tar hat­te ich das Bei­spiel von Ein­schwö­rungs-Ritua­len vor dem Aus­tra­gen eines Mannschaftsspiels.

    Neh­men wir eine Demons­tra­ti­on: Wer brüllt lau­ter – der mit den klu­gen, dif­fe­ren­zier­ten Gedan­ken und Selbst­zwei­feln oder der, der kei­ne Fra­gen stellt und rest­los »über­zeugt« ist?

    Im nor­ma­len All­tags­le­ben sehe ich nicht, dass über­stei­ger­te Mora­li­sie­run­gen und abso­lut gesetz­te – hei­li­ge – Wer­te die Koope­ra­ti­on för­dern. (Im All­tags­le­ben fin­det sich neben­bei auch kei­ne Gen­der­spra­che, die ja eben­falls ein Ritu­al ist.)

    Die­se Sinn­su­che (sie­he Anfang des Arti­kels) leuch­tet mir auch nicht ganz ein. Men­schen kön­nen durch­aus dif­fe­ren­ziert den­ken und brau­chen im All­tag kein mora­li­sches Schwarz­weiß. Reli­giö­se Inhal­te sind ja gera­de alles ande­re als sinn­voll (»höher als unse­re Vernunft«).

    Man muss beden­ken, dass unse­re christ­li­chen Haupt­kon­fes­sio­nen inzwi­schen kaum noch Men­schen dazu bewe­gen kön­nen, in die Kur­che zu gehen. Unser heu­ti­ges Ver­ständ­nis von Reli­gi­on ist inso­fern viel­leicht ver­zerrt. Ursprüng­lich waren die wahr­schein­lich viel poli­ti­scher und stär­ker auf Kampf gegen Fein­de aus­ge­rich­tet. Sek­ten wie die Zeu­gen Jeho­vas mischen sich viel stär­ker in das kon­kre­te Leben ihrer Anhän­ger ein. So ist Rock­mu­sik bei den Zeu­gen dämo­ni­siert. Man grenzt sich durch kon­ser­va­ti­ven Lebens­stil und Klei­dung ab. Das ist nicht ein­fach nur Sinn­su­che. Das ist kon­kre­ter. Die Geis­tes­hal­tung ist eher: Da drau­ßen sind Fein­de. Man muss sie ent­we­der zum Sei­ten­wech­sel bewe­gen oder bekämp­fen. Aber man darf kei­ne Kom­pro­mis­se machen.

    Eine ande­re Fra­ge, die mich umtreibt: Was hat sich in den letz­ten Jah­ren ver­än­dert, dass sich die Span­nun­gen in der Gesell­schaft so ver­schärft haben? War­um pas­siert das alles gera­de jetzt?

    P.S. Oben ist ein Tipp­feh­ler: »Sie schrieb spä­ter, dass sie die [nie?] genau ver­stand, auf wel­che Wei­se die Spren­gung eines Flug­zeugs vol­ler Tou­ris­ten zur Wie­der­ver­ei­ni­gung füh­ren sollte«

    1. Im nor­ma­len All­tags­le­ben sehe ich nicht, dass über­stei­ger­te Mora­li­sie­run­gen und abso­lut gesetz­te – hei­li­ge – Wer­te die Koope­ra­ti­on för­dern. (Im All­tags­le­ben fin­det sich neben­bei auch kei­ne Gen­der­spra­che, die ja eben­falls ein Ritu­al ist.)

      Na ja, was ist dein Maß­stab für »über­stei­gert«? Aber ob abso­lu­te Wer­te die Koope­ra­ti­on för­dern? Oh ja. Frag doch mal bei­läu­fig Bekann­te, ob Ras­sis­mus und Frau­en­un­ter­drü­ckung nicht doch gute Ideen sind, ob wir Men­schen­rech­te und Demo­kra­tie wirk­lich brau­chen, ob wir ein­an­der fair behan­deln soll­ten, das Leben ach­ten soll­ten, ob mathe­ma­ti­sche Berech­nun­gen kor­rekt sein soll­ten, oder wirf in der Fir­ma die Fra­ge auf, ob das Über­le­ben der Fir­ma über­haupt ein erstre­bens­wer­tes Ziel ist. Wenn du auf ein phi­lo­so­phisch ver­an­lag­tes Gegen­über stößt, kön­nen sich dar­aus viel­leicht unter­halt­sa­me Debat­ten ent­wi­ckeln, aber soweit der Ein­druck ent­steht, dass du das ernst meinst und mit die­sen Ideen tat­säch­lich die sozia­le Pra­xis modi­fi­zie­ren willst, wirst du schnell an Magnet­fel­dern abpral­len. Und die Leu­te wer­den nicht erst über­le­gen müs­sen, ob das gute Ideen sind, oder sich um eine star­ke Argu­men­ta­ti­on bemü­hen. Es ist eine emo­tio­na­le Reak­ti­on und die Ant­wort ist ein­fach da. Und das geht auch nicht anders. Es gibt zu vie­les, das man in Fra­ge stel­len könn­te, wenn man die­se emo­tio­na­len Leit­plan­ken nicht hät­te, das wäre unmög­lich zu handhaben.

      Die­se Sinn­su­che (sie­he Anfang des Arti­kels) leuch­tet mir auch nicht ganz ein. Men­schen kön­nen durch­aus dif­fe­ren­ziert den­ken und brau­chen im All­tag kein mora­li­sches Schwarz­weiß. Reli­giö­se Inhal­te sind ja gera­de alles ande­re als sinn­voll (“höher als unse­re Vernunft”).

      Sie­he oben: doch. Der abso­lu­te Groß­teil unse­res Ver­hal­tens ist auto­ma­tisch. »Dif­fe­ren­ziert Den­ken« ist nur gefragt, wenn wir wirk­lich auf Schwie­rig­kei­ten sto­ßen, weil unse­re Rou­ti­nen ver­sa­gen. Dass wir dif­fe­ren­ziert den­ken, ist die Aus­nah­me, nicht die Regel. Und das muss auch so sein, weil es viiii­iel zu viel gäbe, wor­über man nach­den­ken könn­te. Dem Den­ken vor­ge­schal­tet ist ein Wer­te­sys­tem, das uns anzeigt, was über­haupt unse­re Auf­merk­sam­keit ver­dient. Wenn das nicht der Fall wäre, wären wir auf­grund von Über­for­de­rung mit all den Rei­zen hand­lungs­un­fä­hig, und wenn wir stän­dig unse­re Wert­ori­en­tie­run­gen in Fra­ge stel­len wür­den, bekä­men wir nie etwas geba­cken. Irgend­wann müs­sen wir auf­hö­ren, dif­fe­ren­ziert zu den­ken, und ein­fach machen. Und der Schwer­punkt, wenn man über­le­ben will, liegt mehr auf dem Machen.

      Bei Sinn­su­che geht es zudem ja noch um etwas ande­res, um das Bedürf­nis nach Sinn. Ist das strit­tig? Hät­test du ger­ne das Gefühl, dass dein Leben sinn­los ist? Bei sol­chen Din­gen müss­te ich genau­er wis­sen, wel­che Aus­sa­ge du genau bestrei­test und wel­ches Phä­no­men wir gera­de erklä­ren wollen. 

      Der Zusam­men­hang wäre in mei­ner Vor­stel­lung die­ser: Religionen/Wertesysteme erfül­len eine inte­gra­ti­ve und koor­di­nie­ren­de Funk­ti­on für Grup­pen. Da dies über Jahr­tau­sen­de der Fall war, kor­re­spon­diert damit auf indi­vi­du­el­ler Ebe­ne ein Bedürf­nis nach sol­chen Wer­te­sys­te­men. So wie man etwa sagen kann, dass Sex der Fort­pflan­zung dient, es aber auch ein eigen­stän­di­ges Bedürf­nis nach Sex gibt, das sich (rela­tiv) unab­hän­gig von der Fort­pflan­zungs­funk­ti­on bemerk­bar macht.

  2. Ich sehe gera­de, dass ich zwei Arti­kel ver­wech­selt habe.

    Ich schrieb: Die­se Sinn­su­che (sie­he Anfang des Arti­kels) leuch­tet mir auch nicht ganz ein.

    Das bezieht sich auf den Arti­kel »Der ras­sis­ti­sche Anti­ras­sis­mus – Kri­tik einer Mas­sen­hys­te­rie«, dort die Pas­sa­ge, die beginnt mit:
    Ich wür­de sagen, dass Men­schen ein Bedürf­nis nach Sinn haben und Reli­gi­on die­sen stiftet.

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