Die Politik der Negation

Das Wah­re ist das Gan­ze. Das Gan­ze aber ist nur das durch sei­ne Ent­wick­lung sich voll­enden­de Wesen. Es ist von dem Abso­lu­ten zu sagen, dass es wesent­lich Resul­tat, dass es erst am Ende das ist, was es in Wahr­heit ist; und hier­in eben besteht sei­ne Natur, Wirk­li­ches, Sub­jekt oder Sich­selbst­wer­den zu sein.

G.W.F. Hegel

Wenn Fer­da Ata­man ver­bal gegen die Bevöl­ke­rung aus­teilt und Poli­ti­ker jubeln, sie sei für die Stel­le der Anti­dis­kri­mi­nie­rungs­be­auf­trag­ten »genau die Rich­ti­ge«, liegt der Schluss nahe, dass die­se Poli­ti­ker die Bevöl­ke­rung ver­ach­ten. Aber ich glau­be, bei Ata­man und in ver­gleich­ba­ren Fäl­len ist ein ande­res Motiv ent­schei­dend: eine bestimm­te magisch-mys­ti­sche Stra­te­gie von ein­fluss­rei­chen Tei­len der Lin­ken zur Ver­voll­komm­nung der Gesellschaft.

Die ent­schei­den­de Anre­gung hier­zu stammt von James Lind­say, der seit eini­ger Zeit dar­auf hin­weist, dass die Lin­ke seit Marx auf einem hege­lia­ni­schen Fun­da­ment ste­he und die Dia­lek­tik ihr »Betriebs­sys­tem« sei. Ich habe das letz­tes Jahr hier erwähnt und spä­ter einen län­ge­ren Text dazu wie­der off­line genom­men, weil ich damit nicht zufrie­den war – das The­ma ist sper­rig. Aber man kommt nicht dar­um her­um, wenn man die Sor­te Uto­pis­mus genau­er ver­ste­hen will, zu der auch die heu­te viru­len­te Woke­ness gehört. Ich neh­me des­halb hier den Faden wie­der auf.

Maß­geb­li­che Tei­le der Lin­ken (»not all« usw.) sehen die Mensch­heit in einem Pro­zess der Ver­voll­komm­nung und unse­re mora­li­sche Pflicht dar­in, zu die­ser Ver­voll­komm­nung bei­zu­tra­gen oder ihr zumin­dest nicht im Weg zu ste­hen. Das ist soweit noch nichts all­zu Beson­de­res – jeder soll­te den Wunsch haben, dass die Din­ge bes­ser wer­den, und eine gewis­se sozia­le Ent­wick­lung voll­zieht sich ja auch ein­deu­tig. Doch die Idee von Ver­voll­komm­nung, um die es hier geht, ist spe­zi­fi­scher. Sie hat eine fol­gen­rei­che magisch-reli­giö­se Kom­po­nen­te, die in der Annah­me besteht, dass die ange­streb­te Voll­kom­men­heit den Din­gen gewis­ser­ma­ßen als ihre Bestim­mung oder ihre wah­re Form, ihre voll ver­wirk­lich­te Essenz, bereits inne­woh­ne und sozu­sa­gen dar­auf war­te, frei­ge­legt zu wer­den. Zum Ende der Geschich­te hin gilt es dies nach und nach zu tun. Die Uto­pis­ten die­ser Art die­nen dem Ziel, den voll­kom­me­nen End­zu­stand mit sei­nen per­fek­tio­nier­ten neu­en Men­schen her­zu­stel­len, wie einem Gott. Die voll­kom­me­ne Gesell­schaft der voll­kom­me­nen Men­schen ist ihr Gott am Ende der Geschichte.

Fol­gen­reich ist die­se Vor­stel­lung von Fort­schritt des­we­gen, weil sie bedeu­tet, dass die unvoll­kom­me­nen gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se, in denen wir leben, als »fal­sche« Ver­hält­nis­se erschei­nen und sämt­lich über­wun­den gehö­ren. Alle unvoll­kom­me­nen gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se, also alle rea­len, erschei­nen aus die­ser Sicht als falsch (gott­los), weil sie nur am Maß­stab der (fik­ti­ven) Voll­kom­men­heit gemes­sen wer­den, die sie eigent­lich aus­zeich­nen soll­te. Das Framing lenkt die Auf­merk­sam­keit auf das, was man für falsch hält, und weg von dem, was an den gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­sen gut und erhal­tens­wert ist, sowie von der Fra­ge, wie man über­haupt Gutes schaf­fen und erhal­ten kann. Mit dem rei­nen Ide­al als Maß­stab wer­den ratio­na­le Abwä­gun­gen von Kos­ten und Nut­zen im Hin­blick auf bestehen­de Ver­hält­nis­se und poli­tisch-gesell­schaft­li­ches Han­deln unmög­lich. Wenn es nicht per­fekt ist, ist es schlecht und muss über­wun­den werden.

Im Mar­xis­mus ist der ver­voll­komm­ne­te End­zu­stand der Kom­mu­nis­mus. Erst im Kom­mu­nis­mus ist die Ent­frem­dung über­wun­den, erst dort fin­det der Mensch zu sich selbst und ist als Mensch voll ver­wirk­licht. Wie das kon­kret aus­se­hen und funk­tio­nie­ren soll, steht in den Ster­nen. Das Gan­ze wird von einem Glau­ben getra­gen, dass es irgend­wie funk­tio­nie­ren wer­de. In der Rea­li­tät haben ver­schie­de­ne Kom­mu­nis­mus­ver­su­che auf­grund der Ein­set­zung eines abs­trak­ten Ide­als als Maß­stab zu gesell­schaft­li­cher Selbst­zer­flei­schung geführt, wäh­rend die Gläu­bi­gen (und ihre Mit­läu­fer) in hohem Maß bereit waren, die Wür­de, die Men­schen­rech­te und das Leben ihrer Zeit­ge­nos­sen im Namen der Mensch­lich­keit dem Ziel zu opfern, den voll­kom­me­ne­ren Men­schen der Zukunft Wirk­lich­keit wer­den zu las­sen. Auch heu­te gilt die Loya­li­tät und das Mit­ge­fühl der radi­ka­len Lin­ken, die sich nach wie vor als die größ­ten Men­schen­freun­de ver­ste­hen, im Zwei­fel eher den hypo­the­tisch ver­voll­komm­ne­ten Men­schen der bes­se­ren Zukunft als den gegen­wär­tig leben­den. Letz­te­re mögen sie meist nicht beson­ders und es braucht wenig, um ihre beteu­er­te Men­schen­lie­be in Hass und Ver­ach­tung umschla­gen zu lassen.

Die Aus­rich­tung auf his­to­ri­sche Bestim­mung und Ver­voll­komm­nung zeigt sich in Aus­drü­cken wie »pro­gres­siv«, »gest­rig«, »auf der rich­ti­gen Sei­te der Geschich­te«, »wir haben schließ­lich das Jahr [aktu­el­les Jahr]« sowie in der Annah­me, man kön­ne alles Tra­dier­te nach Belie­ben ver­wer­fen oder müs­se es sogar umfas­send bekämp­fen, um sich aus den Beschrän­kun­gen zu befrei­en, die es einem auf­er­legt – so wie Maos Rote Gar­den in einer Ter­ror­kam­pa­gne durch Chi­na gezo­gen sind, um alles Alte zu zer­stö­ren. Die Über­hö­hung der Jugend bei kom­ple­men­tä­rer Ver­ach­tung der Alten ist ein Aus­druck des magi­schen Den­kens, das ich hier beschrei­be. Die Alten sind die vor­ran­gi­gen Trä­ger von Wis­sen und Lebens­er­fah­rung. Die Stra­te­gie, poli­ti­sche Macht von den Alten auf die Jun­gen umzu­schich­ten, beruht auf der Annah­me, dass die Jun­gen ganz ohne Wis­sen und Lebens­er­fah­rung nicht nur alles genau so gut kön­nen, son­dern sogar eine bes­se­re Gesell­schaft schaf­fen wür­den. Dies ent­spricht dem Glau­ben, dass die Voll­kom­men­heit den Din­gen und Men­schen bereits inne­woh­ne und sich spon­tan irgend­wie von selbst ver­wirk­li­chen wer­de, wenn man nur das Über­lie­fer­te zer­stört, das die­se Ver­wirk­li­chung bis­her bremst und ver­hin­dert. Man braucht kein Wis­sen und kei­ne Erfah­rung, um eine gute Gesell­schaft zu errich­ten; man braucht im Gegen­teil ein mög­lichst unbe­schrie­be­nes Blatt, damit sich mög­lichst unge­stört und unbe­ein­flusst die per­fek­te wah­re Natur der Din­ge ver­wirk­li­chen kann.

Dialektik als Mechanismus der Vervollkommnung

Die Dia­lek­tik ist in die­sem Zusam­men­hang der Mecha­nis­mus, durch den sich die Ver­voll­komm­nung voll­zieht und die Din­ge »zu sich selbst fin­den«, wie Hegel sagen wür­de, also ihre eigent­li­che, wahrs­te Form ver­wirk­li­chen. In ver­ein­fach­ter Dar­stel­lung ist die Dia­lek­tik der Drei­schritt: The­se, Anti­the­se, Syn­the­se. Ange­wandt auf die Ver­voll­komm­nung der Gesell­schaft wür­de man sich das etwa so vor­stel­len: Immer wie­der wird ein Aspekt der gesell­schaft­li­chen Wirk­lich­keit – ein Begriff, eine Pra­xis oder eine Insti­tu­ti­on – mit einem Wider­spruch kon­fron­tiert, also einer Anti­the­se oder Nega­ti­on. Der offe­ne Wider­spruch wirkt im nächs­ten Schritt als Antrieb zur Bil­dung einer Syn­the­se. Dies ist eine neue Ent­wick­lungs­stu­fe der Sache, auf der die erhal­tens­wer­ten Aspek­te der ursprüng­li­chen Sache und der Nega­ti­on auf­ge­ho­ben und zu einer neu­en Ein­heit gekom­men sind. Dann taucht in die­ser neu­en Ein­heit wie­der ein Wider­spruch auf und so wei­ter, bis die Voll­kom­men­heit erreicht ist.

Mir geht es hier nicht dar­um, das alles phi­lo­so­phisch auf­zu­ar­bei­ten, son­dern um einen Ver­such, bestimm­te Phä­no­me­ne unse­rer Zeit zu erklä­ren. Doch um zumin­dest zu zei­gen, dass ich mir das nicht aus den Fin­gern sau­ge oder nur einen ver­rückt gewor­de­nen James Lind­say nach­plap­pe­re, hier ein paar Zita­te im Schnelldurchlauf.

Zunächst zur Annah­me, dass der voll­kom­me­ne End­zu­stand den Din­gen bereits inne­woh­ne, bei Hegel. Hier müs­sen wir an sei­nem merk­wür­di­gen Ver­nunft­be­griff (bei Hegel sind alle tra­gen­den Begrif­fe merk­wür­dig) anset­zen. Dina Emundts und Rolf-Peter Horst­mann schrei­ben in G.W.F. Hegel – eine Ein­füh­rung:

Das von Hegel zugrun­de geleg­te Erklä­rungs­prin­zip aller Wirk­lich­keit ist die Ver­nunft. Ver­nunft, wie Hegel sie ver­steht, ist nicht irgend­ei­ne Eigen­schaft, die irgend einem Sub­jekt zukommt, son­dern sie ist die Sum­me aller Rea­li­tät. Gemäß die­ser Auf­fas­sung gilt für Hegel die strik­te Iden­ti­tät von Ver­nunft und Wirk­lich­keit: Nur die Ver­nunft ist wirk­lich und nur die Wirk­lich­keit ist ver­nünf­tig. … Die sei­ne Kon­zep­ti­on lei­ten­de Grund­vor­stel­lung ist die, dass man die Ver­nunft nach dem Vor­bild eines leben­di­gen Orga­nis­mus auf­zu­fas­sen hat. Ein leben­di­ger Orga­nis­mus wird von Hegel gedacht als ein Wesen, das die gelun­ge­ne Rea­li­sie­rung eines Pla­nes dar­stellt, in dem alle indi­vi­du­el­len Merk­ma­le die­ses Wesens ent­hal­ten sind. Die­sen Plan nennt Hegel den Begriff eines Wesens, und die gelun­ge­ne Rea­li­sie­rung stellt er sich als das Ergeb­nis eines Ent­wick­lungs­pro­zes­ses vor, in des­sen Ver­lauf jedes der indi­vi­du­el­len Merk­ma­le Rea­li­tät gewinnt.

Die­se und nach­fol­gen­de Her­vor­he­bun­gen von mir.

Die Dia­lek­tik ist der Mecha­nis­mus die­ses Ent­wick­lungs­pro­zes­ses, und sein Treib­stoff sind Wider­sprü­che. Hegel mein­te, dass jedes Ding und jeder Gedan­ke sein eige­nes Gegen­teil ent­hal­te, sei­ne eige­ne Nega­ti­on, also einen Wider­spruch dar­stel­le. Hegel war hier sehr radi­kal, er schrieb: »Alle Din­ge sind an sich selbst wider­spre­chend«. Die Losun­gen der Par­tei in »1984«, »Krieg ist Frie­den, Frei­heit ist Skla­ve­rei, Unwis­sen­heit ist Stär­ke«, sind Aus­druck dia­lek­ti­schen Den­kens in die­sem Sinn (oder eine Per­ver­si­on davon, wenn man so will). Alles ent­hält sein eige­nes Gegen­teil bezie­hungs­wei­se schlägt um in sein Gegen­teil. Das öff­net vie­le Türen für krea­ti­ve Umdeu­tun­gen der Wirk­lich­keit. Eine per­fek­te Illus­tra­ti­on ist Her­bert Mar­cu­ses Begriff der »repres­si­ven Tole­ranz«. Was gemein­hin unter Tole­ranz ver­stan­den wird, schlägt um in Into­le­ranz; daher müs­sen wir into­le­rant sein, um wah­re Tole­ranz zu ermöglichen.

Durch den Wider­spruch jeden­falls wächst das Ding/der Gedan­ke in der Syn­the­se über sich selbst hin­aus und erreicht die nächs­te Stu­fe. Alle Din­ge ent­hal­ten also neben ihrer eige­nen Ver­nei­nung auch den Keim ihrer eige­nen Ver­voll­komm­nung. Dies erklärt Lind­says Ver­wei­se auf »Alche­mie« in die­sem Zusam­men­hang; er spielt auf die alche­mi­sche Idee an, dass im Stein Gold ent­hal­ten sei, das man durch das rich­ti­ge Ver­fah­ren her­aus­ho­len kön­ne. Bei Hegel ist, ver­ein­facht gesagt, in allem die »Ver­nunft« als »Sum­me aller Rea­li­tät« ent­hal­ten, und man kann sie her­vor­kit­zeln, indem man Wider­sprü­che gegeneinanderschlägt.

[Hegel ver­trat die Über­zeu­gung,] dass die Gesamt­heit des­sen, was in irgend­ei­nem Sin­ne wirk­lich ist, als Aus­dif­fe­ren­zie­rung und par­ti­el­le Rea­li­sie­rung einer Pri­mär­struk­tur auf­zu­fas­sen ist, die allen in irgend­ei­nem Sin­ne wirk­li­chen Sach­ver­hal­ten zugrun­de liegt. Die­se Pri­mär­struk­tur nennt Hegel ›das Abso­lu­te‹ oder ›die Ver­nunft‹ (S. 33).

Hegels Stil ist schwie­rig, aber in fol­gen­der Stel­le aus erwähn­ter Ein­füh­rung kann man den Zusam­men­hang zwi­schen Wider­spruch, Dia­lek­tik und Ver­voll­komm­nung erahnen:

»Die Dia­lek­tik dage­gen ist dies imma­nen­te Hin­aus­ge­hen [über eine Bestimmt­heit], wor­in die Ein­sei­tig­keit und Beschränkt­heit der Ver­stan­des­be­stim­mun­gen sich als das, was sie ist, näm­lich als ihre Nega­ti­on, dar­stellt« … (S. 59). Die zwei­te Vor­aus­set­zung cha­rak­te­ri­siert Hegel so, dass in die­ser Nega­ti­on etwas Posi­ti­ves sei und zwar »die Ein­heit der Bestim­mun­gen in ihrer Ent­ge­gen­set­zung auf das Affir­ma­ti­ve, das in ihrer Auf­lö­sung und in ihrem Über­ge­hen ent­hal­ten ist« … . Da das­je­ni­ge, was sich ent­ge­gen­ge­setzt wur­de, bestimmt war, ist, so Hegel wei­ter, auch die Ein­heit der sich negie­ren­den Bestim­mun­gen bestimmt und inso­fern ein reich­hal­ti­ge­rer Begriff: »Dies Ver­nünf­ti­ge ist daher obwohl ein Gedach­tes auch Abs­trak­tes, zugleich ein Kon­kre­tes, weil es nicht ein­fa­che, for­mel­le Ein­heit, son­dern Ein­heit unter­schie­de­ner Bestim­mun­gen ist« … (S. 60).

Bei­de Sei­ten des Wider­spruchs hat­ten sozu­sa­gen einen Infor­ma­ti­ons­wert, und bei­de Infor­ma­ti­ons­wer­te sind in der Syn­the­se wei­ter ent­hal­ten, mit Hegels Wort »auf­ge­ho­ben«. Sie ist des­halb höher­wer­tig und einen Schritt näher an der Per­fek­ti­on. Die Per­fek­ti­on ist erreicht, wenn ein Begriff alles ent­hält und mit der beschrie­be­nen Wirk­lich­keit deckungs­gleich ist (was unmög­lich ist, aber dazu später).

Sebas­ti­an Ost­risch beschreibt es in »Hegel – der Welt­phi­lo­soph« so (Her­vor­he­bun­gen im Original):

Mit Dia­lek­tik haben wir es also zu tun, wenn das Den­ken eines Gedan­kens über sich hin­aus führt auf sein Gegen­teil (S. 18). … Man den­ke etwa an das römi­sche »summum ius, sum­ma ini­uria« – »Wo Recht alles ist, herrscht höchs­tes Unrecht«. Wo bis zum Äußers­ten auf dem bestehen­den Recht, der von einem Gesetz­ge­ber gesetz­ten und daher posi­ti­ven Gesetz­ge­bung, beharrt wird, ohne mög­li­che Aus­nah­men, Här­te­fäl­le oder den Gna­den­akt zu berück­sich­ti­gen, dort schlägt das Recht in Unrecht um (S. 19).

Inter­es­sant ist hier der naht­lo­se Über­gang von einer Aus­sa­ge dar­über, was mit Gedan­ken pas­siert, zu einer Aus­sa­ge dar­über, was in der sozia­len Pra­xis pas­siert, als könn­te man das eine umstands­los auf das ande­re über­tra­gen. Dies ist cha­rak­te­ris­tisch für das gan­ze Pro­jekt Hegels – die Annah­me, dass man an Begrif­fen und Gedan­ken intro­spek­tiv die Struk­tur der Wirk­lich­keit able­sen kön­ne. Ost­rit­sch weiter:

Der nega­ti­ve, gegen­satz­pro­du­zie­ren­de Aspekt der Dia­lek­tik ist eigent­lich nur ein Vor­spiel. Wor­auf es letzt­lich ankommt, ist der posi­ti­ve, die Gegen­sät­ze ver­söh­nen­de Aspekt der Dia­lek­tik: »das Spe­ku­la­ti­ve«. Es fasst das »Ent­ge­gen­ge­setz­te in sei­ner Ein­heit«, über­win­det die dia­lek­tisch her­vor­ge­brach­ten Gegen­sät­ze, hebt sie auf (S. 20).

Das ist das, was ich oben als »Syn­the­se« bezeich­net habe. 

Marx ist stark von Hegel beein­flusst. Er nimmt des­sen Modell von Dia­lek­tik als Motor einer von Wider­sprü­chen ange­trie­be­nen Ent­wick­lung und über­trägt es – jeden­falls sei­nem Anspruch nach – von der Sphä­re des Geis­ti­gen auf die mate­ri­el­len gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se. Im Nach­wort zur zwei­ten Auf­la­ge von »Das Kapi­tal« bei­spiels­wei­se kommt das klar zum Aus­druck. Marx kom­men­tiert einen Rezen­sen­ten des Buches, der geschrie­ben hat­te (Her­vor­he­bun­gen von mir):

Der wis­sen­schaft­li­che Wert sol­cher For­schung liegt in der Auf­klä­rung der besond­ren Geset­ze, wel­che Ent­ste­hung, Exis­tenz, Ent­wick­lung, Tod eines gege­be­nen gesell­schaft­li­chen Orga­nis­mus und sei­nen Ersatz durch einen and­ren, höhe­ren regeln. Und die­sen Wert hat in der Tat das Buch von Marx.

Marx dazu:

Indem der Herr Ver­fas­ser das, was er mei­ne wirk­li­che Metho­de nennt, so tref­fend und, soweit mei­ne per­sön­li­che Anwen­dung der­sel­ben in Betracht kommt, so wohl­wol­lend schil­dert, was and­res hat er geschil­dert als die dia­lek­ti­sche Methode?

Und wei­ter:

In ihrer ratio­nel­len Gestalt ist [die Dia­lek­tik] dem Bür­ger­tum und sei­nen dok­tri­nä­ren Wort­füh­rern ein Ärger­nis und ein Greu­el, weil sie in dem posi­ti­ven Ver­ständ­nis des Bestehen­den zugleich auch das Ver­ständ­nis sei­ner Nega­ti­on, sei­nes not­wen­di­gen Unter­gangs ein­schließt, jede gew­ord­ne Form im Flus­se der Bewe­gung, also auch nach ihrer ver­gäng­li­chen Sei­te auf­faßt, sich durch nichts impo­nie­ren läßt, ihrem Wesen nach kri­tisch und revo­lu­tio­när ist.

Die wider­spruchs­vol­le Bewe­gung der kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft macht sich dem prak­ti­schen Bour­geois am schla­gen­ds­ten fühl­bar in den Wech­sel­fäl­len des peri­odi­schen Zyklus, den die moder­ne Indus­trie durch­läuft, und deren Gip­fel­punkt – die all­ge­mei­ne Kri­se. Sie ist wie­der im Anmarsch, obgleich noch begrif­fen in den Vor­sta­di­en, und wird durch die All­sei­tig­keit ihres Schau­plat­zes, wie die Inten­si­tät ihrer Wir­kung, selbst den Glücks­pil­zen des neu­en hei­li­ge, preu­ßisch-deut­schen Reichs Dia­lek­tik ein­pau­ken.

Apro­pos Dia­lek­tik ein­pau­ken. Lenin schrieb in sei­nem Frag­ment »Zur Fra­ge der Dia­lek­tik« (Her­vor­he­bun­gen von mir):

Ent­wick­lung ist „Kampf« der Gegen­sät­ze. Die bei­den grund­le­gen­den (oder mög­li­chen? oder in der Geschich­te zu beob­ach­ten­den) Auf­fas­sun­gen der Ent­wick­lung (Evo­lu­ti­on) sind: Ent­wick­lung als Ver­klei­ne­rung und Ver­grö­ße­rung, als Wie­der­ho­lung; und Ent­wick­lung als Ein­heit der Gegen­sät­ze (Spal­tung des Ein­heit­li­chen in ein­an­der aus­schlie­ßen­de Gegen­sät­ze und deren gegen­sei­ti­ge Beziehung).

… Nur die zwei­te lie­fert den Schlüs­sel zum Ver­ständ­nis der „Selbst­be­we­gung« alles Sei­en­den; nur sie lie­fert den Schlüs­sel zum Ver­ständ­nis der „Sprün­ge«, der „Unter­bre­chung im Auf­ein­an­der«, der „Ver­wand­lung in das Gegen­teil«, der Ver­nich­tung des Alten und Ent­ste­hung des Neu­en.

Sta­lin in »Über dia­lek­ti­schen und his­to­ri­schen Mate­ria­lis­mus (Her­vor­he­bun­gen von mir)«:

Im Gegen­satz zur Meta­phy­sik geht die Dia­lek­tik davon aus, dass den Natur­din­gen, den Natur­er­schei­nun­gen inne­re Wider­sprü­che eigen sind, denn sie alle haben ihre nega­ti­ve und posi­ti­ve Sei­te, ihre Ver­gan­gen­heit und Zukunft, ihr Able­ben­des und sich Ent­wi­ckeln­des, dass der Kampf die­ser Gegen­sät­ze, der Kampf zwi­schen Altem und Neu­em, zwi­schen Abster­ben­dem und neu Ent­ste­hen­dem, zwi­schen Able­ben­dem und sich Ent­wi­ckeln­dem, den inne­ren Gehalt des Ent­wick­lungs­pro­zes­ses, den inne­ren Gehalt des Umschla­gens quan­ti­ta­ti­ver Ver­än­de­run­gen in qua­li­ta­ti­ve bildet.

Dar­um ergibt sich aus der dia­lek­ti­schen Metho­de, dass der Pro­zess der Ent­wick­lung von Nie­de­rem zu Höhe­rem nicht in Form einer har­mo­ni­schen Ent­fal­tung der Erschei­nun­gen ver­läuft, son­dern in Form eines Her­vor­bre­chens der Wider­sprü­che, die den Din­gen und Erschei­nun­gen eigen sind, in Form eines „Kamp­fes“ gegen­sätz­li­cher Ten­den­zen, die auf der Grund­la­ge die­ser Wider­sprü­che wirk­sam sind.

… Wenn die Welt sich in unun­ter­bro­che­ner Bewe­gung und Ent­wick­lung befin­det, wenn das Abster­ben des Alten und das Her­an­wach­sen des Neu­en ein Ent­wick­lungs­ge­setz ist, so ist es klar, dass es kei­ne „uner­schüt­ter­li­chen“ gesell­schaft­li­chen Zustän­de, kei­ne „ewi­gen Prin­zi­pi­en“ des Pri­vat­ei­gen­tums und der Aus­beu­tung, kei­ne „ewi­gen Ideen“ der Unter­wer­fung der Bau­ern unter die Guts­be­sit­zer, der Arbei­ter unter die Kapi­ta­lis­ten mehr gibt.

Also kann man die kapi­ta­lis­ti­sche Ord­nung durch die sozia­lis­ti­sche Ord­nung erset­zen, eben­so wie die kapi­ta­lis­ti­sche Ord­nung sei­ner­zeit die Feu­dal­ord­nung ersetzt hat.

Und schließ­lich Mao Tse-Tung in sei­ner Schrift »Über den Wider­spruch« (Her­vor­he­bun­gen von mir):

Das Gesetz des den Din­gen inne­woh­nen­den Wider­spruchs oder das Gesetz der Ein­heit der Gegen­sät­ze ist das Grund­ge­setz der Natur und der Gesell­schaft und folg­lich auch des Den­kens. … Vom Gesichts­punkt des dia­lek­ti­schen Mate­ria­lis­mus exis­tiert der Wider­spruch in allen Pro­zes­sen, die sich an objek­tiv exis­tie­ren­den Din­gen sowie im sub­jek­ti­ven Den­ken abspie­len, und durch­läuft alle Pro­zes­se von Anfang bis Ende.

Bis Ende, wohl­ge­merkt. Bis kei­ne Wider­sprü­che mehr übrig sind. Bis alles per­fekt ist. Und wir sehen hier auch die Ana­log­set­zung der Logik von Gedan­ken mit der Logik der mate­ri­el­len Wirk­lich­keit, die, wie gesagt, ein Kern­aspekt des Hegel­schen Pro­jekts ist. Wenn man sie akzep­tiert, liegt es nahe, zu mei­nen: Wenn man es so den­ken kann, kann man es auch so umset­zen.

Im Wes­ten kam es nicht zur Revo­lu­ti­on, aber dafür wur­den die­se Ideen im aka­de­mi­schen Betrieb gepflegt und wei­ter­ent­wi­ckelt. Das fol­gen­de ist ein Zitat aus der (wohl­wol­len­den) Erläu­te­rung zum Auf­satz »Tra­di­tio­nel­le und Kri­ti­sche Theo­rie«, in dem Max Hork­hei­mer den Grund­stein für die kri­ti­sche Theo­rie gelegt hat, in einer aktu­el­len Aus­ga­be (S. 113f.). 

Ande­rer­seits darf kri­ti­sche Theo­rie kei­ne blo­ße Uto­pie wer­den, denn als ›ort­lo­ses‹ Den­ken müss­te sie wie­der­um ihre sozia­le Bedingt­heit ver­leug­nen. Statt­des­sen zielt sie auf eine ver­nünf­ti­ge Ein­rich­tung der Gesell­schaft, die Hork­hei­mer (mit Marx) vage beschreibt als »Gemein­schaft frei­er Men­schen, wie sie bei den vor­han­de­nen tech­ni­schen Mit­teln mög­lich ist« (S. 44). Ihr Gehalt wird nicht von den kri­ti­schen Theoretiker*innen am Schreib­tisch erdacht, son­dern kon­kre­ti­siert sich in den sozia­len Kämp­fen, in denen die Mög­lich­keit auf­scheint, dass die in der bür­ger­li­chen Gesell­schaft bloß zufäl­li­gen Über­ein­stim­mun­gen von »Den­ken und Sein, Ver­stand und Sinn­lich­keit, mensch­li­chen Bedürf­nis­sen und ihrer Befrie­di­gung« (S. 45) auf ver­nünf­ti­ge Wei­se zustan­de kommen.

Es wird also kein kon­kre­tes Bild von der ange­streb­ten Gesell­schaft vor­ge­stellt. Ein sol­ches Bild kön­nen wir nach die­ser Auf­fas­sung gar nicht den­ken, weil wir immer von der bestehen­den, alten Gesell­schaft geprägt und in unse­rem Den­ken beschränkt sind. Der Stand­punkt, es han­de­le sich des­we­gen nicht um Uto­pis­mus, ist jedoch faden­schei­nig, da auch oder gera­de mit der abs­trak­te­ren Beschrei­bung der »Gemein­schaft frei­er Men­schen« das Bild einer Uto­pie gezeich­net wird, das eine Pro­jek­ti­ons­flä­che für Wunsch­den­ken aller Art bietet.

Der Begriff »ver­nünf­tig« steht hier nicht zufäl­lig. Hork­hei­mer beob­ach­tet durch­aus rich­tig, dass die Gesell­schaft eine Form und Struk­tur hat, die sich aus mehr oder weni­ger blin­den, unge­steu­er­ten his­to­ri­schen und sozia­len Pro­zes­sen ergibt und im Gan­zen nicht auf ratio­na­ler Über­le­gung beruht. Die­se Selbst­läu­fig­keit sozia­ler Pro­zes­se, die teils uner­freu­li­che Aus­wir­kun­gen hat, soll über­wun­den wer­den, um der Gesell­schaft an ihrer Stel­le eine »ver­nünf­ti­ge« Struk­tur zu geben, was so viel heißt wie eine Struk­tur, die man sich wün­schen würde.

Da die eman­zi­pier­te Gesell­schaft weder aus­ge­malt wer­den darf noch sich an den Maß­stä­ben der gegen­wär­ti­gen Gesell­schaft ori­en­tie­ren kann, bleibt Hork­hei­mers Ziel­be­stim­mung not­wen­di­ger­wei­se unklar. Dies wur­de viel­fach kri­ti­siert. Man kann dar­in jedoch auch eine Stär­ke sehen, wenn man den Eman­zi­pa­ti­ons­be­griff nega­ti­vis­tisch deu­tet, so dass er »die Mini­mie­rung von Herr­schafts­be­zie­hun­gen und nicht eine sozia­le Welt ohne oder jen­seits von Macht­be­zie­hun­gen bezeich­net«. In die­ser Les­art zielt kri­ti­sche Theo­rie nicht auf eine fixe Gesell­schafts­ord­nung und wäre ›fer­tig‹, sobald die­se erreicht ist, son­dern bezeich­net die unend­li­che Auf­ga­be, jeweils von neu­em schar­fe Herr­schafts­kri­tik zu üben.

Also: Nega­ti­on. Das posi­ti­ve Ziel wird nicht arti­ku­liert (du sollst dir kein Bild­nis machen …). Statt­des­sen wird kon­ti­nu­ier­lich das auf­ge­zeigt und negiert, wor­an man sich stört; »Herr­schafts­be­zie­hun­gen«. Heu­te sind wir im Post­mo­der­nis­mus ange­kom­men, wo so ziem­lich alles eine Herr­schafts­be­zie­hung ist. Man­spre­a­ding, Mikro­ag­gres­sio­nen, Hete­ro­nor­ma­ti­vi­tät, Fami­lis­mus, Adul­tis­mus und so wei­ter. In jedem Sprach­akt und jedem Bröck­chen Wis­sen macht sich aus Sicht des poli­tisch-akti­vis­ti­schen Post­mo­der­nis­mus die all­um­fas­sen­de Herr­schafts­struk­tur gel­tend. Des­halb muss fol­ge­rich­tig auch so ziem­lich alles kon­ti­nu­ier­lich negiert wer­den, in der Erwar­tung, dass sich dadurch irgend­wie, irgend­wann spon­tan die nicht näher umschrie­be­ne »eman­zi­pier­te Gesell­schaft« manifestiert.

»It’s not going to work this time, eit­her« (James Lindsay).

Antirassismus als Antithese

Der neue soge­nann­te Anti­ras­sis­mus ist beson­ders klar als dia­lek­ti­sche Anti­the­se in die­sem Sinn erkenn­bar. Es zeigt sich bereits im Namen: »Anti-Ras­sis­mus« als Anti­the­se zum Ras­sis­mus und ein­zi­ges Mit­tel, das gegen ihn hilft. Für den neu­en Anti­ras­sis­mus gibt es kei­ne neu­tra­le Posi­ti­on. Man kann nicht ein­fach nicht ras­sis­tisch sein und dadurch den Ras­sis­mus aus­ster­ben las­sen. Man kann auch nicht auf ver­schie­de­ne Arten gegen Ras­sis­mus sein oder ver­schie­de­ne Stra­te­gien gegen ihn für geeig­net hal­ten. Man ist ent­we­der Ras­sist oder Anti­ras­sist. Nur die Anti­the­se kann über den Ist­zu­stand hin­aus­füh­ren. Und wie sieht die aus, was heißt es, Anti­ras­sist zu sein? Es heißt, sich dem ange­nom­me­nen all­ge­gen­wär­ti­gen Ras­sis­mus gewis­ser­ma­ßen wie des­sen Spie­gel­bild ent­ge­gen­zu­stel­len, und zwar eben­so per­ma­nent, wie sich nach anti­ras­sis­ti­scher Ansicht der Ras­sis­mus gesell­schaft­lich gel­tend macht. Sich ihm ent­ge­gen­zu­stel­len wie­der­um heißt, ihn über­all bewusst und sicht­bar zu machen und zu ver­ur­tei­len. Gleich­zei­tig gilt es dem Pri­vi­leg der Wei­ßen ent­ge­gen­zu­wir­ken, indem man sie irgend­wie ernied­rigt und/oder die Nicht­wei­ßen auf­wer­tet. Wird dem Ras­sis­mus oft und stark genug die Anti­the­se ent­ge­gen­ge­setzt, also der Anti­ras­sis­mus, heben sich bei­de irgend­wann in einem Zustand der Gleich­heit gegen­sei­tig auf.

Fer­da Ata­man hat, wie ähn­lich aus­ge­rich­te­te Akteu­re, die Funk­ti­on einer Anti­the­se oder Nega­ti­on. Was bedeu­ten Äuße­run­gen wie die, sie lege »den Fin­ger in die Wun­de«? Wel­chen Sinn hat es, den Fin­ger in eine Wun­de zu legen? Es hat den Sinn, spür­bar zu machen, dass da eine Wun­de ist. Es ist das dia­lek­ti­sche Her­vor­kit­zeln und Anein­an­der­schla­gen der Wider­sprü­che, die, so die Annah­me, ohne jeman­den wie Ata­man unbe­merkt blie­ben, so dass die Ent­wick­lung nicht vorankäme.

Des­halb küm­mert es ihre Unter­stüt­zer nicht, dass ihre Rhe­to­rik gif­tig ist und bereits die Nach­richt ihrer Nomi­nie­rung eher Fron­ten ver­här­tet als Ver­stän­di­gung ange­bahnt hat. Ver­stän­di­gung, Ver­söh­nung oder Güte brin­gen uns nicht wei­ter. Sie erschei­nen als nutz­lo­ses Appease­ment gegen­über dem Sta­tus Quo, in dem die Ungleich­heit aus die­ser Sicht so tief ver­wur­zelt ist, dass das gan­ze Sys­tem sein inners­tes Wesen ver­än­dern muss, um ihr bei­zu­kom­men. Und das geht nur durch die Magie der Dia­lek­tik, deren Treib­stoff Wider­sprü­che sind, und die gene­ra­ti­ve Kraft der Wider­sprü­che mobi­li­siert man, indem man den Din­gen ihre Nega­ti­on entgegensetzt.

Aktivisten der Negation

Das alles mag als ziem­li­che Über­in­ter­pre­ta­ti­on anmu­ten. Aber wie erklärt man sich dann das Ver­hal­ten und vor allem die posi­ti­ve Reso­nanz von Ata­man und ande­ren? Wei­te­re Bei­spie­le sind Jas­mi­na Kuhn­ke, die sich auf Twit­ter brüs­te­te, ein Hash­tag »#white­de­vil« zum Trend gemacht zu haben, Mal­colm Ohan­we, der im Kino wei­ße Män­ner, Frau­en und Kin­der hän­gen sehen möch­te und vor einem schwar­zen Dik­ta­tor knien­de Wei­ße als sei­nen »feuch­ten Traum« bezeich­ne­te, und Moha­med Amja­hid, der Migran­ten auf­ruft, »Bibis zu machen«, um Kon­ser­va­ti­ve auf demo­gra­phi­schem Weg aus der Poli­tik zu drän­gen. Sol­che Akteu­re haben Zehn­tau­sen­de Fol­lower und wer­den von gro­ßen Medi­en hofiert. War­um? Wie stel­len sie und ihr Publi­kum sich den Wirk­me­cha­nis­mus vor, durch den die­se dümm­li­chen Pro­vo­ka­tio­nen zu einer bes­se­ren Gesell­schaft füh­ren sollen?

Die Ant­wort ist: dia­lek­tisch. Das Modell taucht in sei­nen Grund­zü­gen im Post­mo­der­nis­mus wie­der auf, wo Main­stream-Wis­sen immer mit unter­drü­cke­ri­scher Herr­schaft ver­wo­ben ist und es daher gilt, mar­gi­na­li­sier­tes Wis­sen und mar­gi­na­li­sier­te Per­spek­ti­ven stark zu machen. Das ist die Legi­ti­ma­ti­on für das ver­ba­le Um-sich-Schla­gen der Genann­ten. Sie sind die Unter­drück­ten, und wenn die Unter­drück­ten über Unter­drü­ckung kla­gen und sich Gehör ver­schaf­fen, ist das auto­ma­tisch ein Schritt in die rich­ti­ge Rich­tung. Die Idee ist, dass ihre radi­ka­len Äuße­run­gen als Anti­the­se zur herr­schen­den ras­sis­ti­schen Ungleich­heit funk­tio­nie­ren und so die Ent­wick­lung hin zu einer Syn­the­se antrei­ben, in der alle gleich sind.

Bei Amja­hids denk­wür­di­gem Bei­trag über »die gefähr­li­che wei­ße Frau im Park« ist die­se Stra­te­gie beson­ders trans­pa­rent. Er dreht die Vor­stel­lung um 180 Grad um, dass ara­bi­sche Män­ner im öffent­li­chen Raum eine Gefahr für wei­ße Frau­en sei­en, und setzt ihr nach dem Sche­ma »Mann beißt Hund« die Anti­the­se ent­ge­gen, wei­ße Frau­en als Gefahr für ara­bi­sche Män­ner. »Coun­ter-Nar­ra­ti­ves«, wie es im Umfeld der Cri­ti­cal Race Theo­ry auch heißt, oder mit einem Aus­druck von Der­rick Bell, dem Urva­ter der CRT, »Racism Hypos«. Das ist eine Kurz­form für »Racism Hypo­the­ti­cals«, erfun­de­ne (!) Geschich­ten über Ras­sis­mus, die die Rea­li­tät (!) des Ras­sis­mus ver­deut­li­chen soll­ten. Das Macht­ge­fäl­le zwi­schen Wei­ßen und Nicht­wei­ßen ist evi­dent, und des­halb ist auto­ma­tisch alles wahr, was die­ses Macht­ge­fäl­le anpran­gert, auch wenn es im Detail bezie­hungs­wei­se im her­kömm­li­chen Sinn nicht wahr ist. Für Hegel wie Post­mo­der­nis­ten ist Wahr­heit his­to­risch relativ.

Mei­ne The­se ist nicht, dass die­se Per­so­nen an Hegel den­ken, wenn sie so reden und han­deln, oder über­haupt je an Hegel den­ken. Auch nicht, dass sie eine aus­ar­ti­ku­lier­te Theo­rie von ihrer Stra­te­gie haben. Men­schen kön­nen auch von Ideen inspi­riert sein, ohne sich des­sen voll bewusst zu sein, ohne die­se Ideen zu ver­ste­hen und ohne zu wis­sen, woher sie ursprüng­lich kom­men. Das ist sogar viel­mehr die Regel als die Aus­nah­me. Wir über­neh­men weit­ge­hend auto­ma­tisch alles Mög­li­che, was wir beob­ach­ten und auf­schnap­pen, wenn es zu unse­ren Bedürf­nis­sen passt, ohne bewusst dar­über nach­zu­den­ken und uns dar­über Rechen­schaft zu geben, was genau wir da tun und war­um. Des­halb kön­nen bei jun­gen Akti­vis­ten pro­blem­los Frag­men­te von Hegel, Marx, der kri­ti­schen Theo­rie oder dem Post­mo­der­nis­mus auf­tau­chen, ohne dass sie irgend­et­was davon gele­sen haben müs­sen. Es wird vor allem über die Uni­ver­si­tä­ten an die Mas­sen durch­ge­reicht. Auf den höhe­ren Ebe­nen gibt es eini­ge, die all das inten­siv stu­die­ren, aber man muss es nicht inten­siv stu­die­ren, um eine Ideo­lo­gie zu ver­in­ner­li­chen, die sich dar­aus ent­wi­ckelt hat. Dazu ist kein tie­fes, dif­fe­ren­zier­tes Wis­sen nötig (für Akti­vis­ten ist es gene­rell eher hin­der­lich) und man kann das Nöti­ge rela­tiv mühe­los auf­schnap­pen. Hegel hat über Marx und die Kri­ti­sche Theo­rie gro­ßen Ein­fluss auf die moder­ne Lin­ke aus­ge­übt, der unab­hän­gig davon wirkt, wie­weit ein­zel­ne Akti­vis­ten sich des­sen bewusst sind. 

Dar­über hin­aus kön­nen Men­schen auch unab­hän­gig von­ein­an­der auf ähn­li­che Ideen kom­men, wenn sie unter ähn­li­chen Bedin­gun­gen leben und sich mit ähn­li­chen Pro­ble­men aus­ein­an­der­set­zen. Dar­auf kom­me ich wei­ter unten zurück.

Bei Akteu­ren wie den eben genann­ten sind sicher­lich auch Nar­ziss­mus und schlicht Berei­che­rungs­stre­ben – Stich­wort »Geschäfts­mo­dell« – als Antrie­be in Betracht zu zie­hen. Sie spie­len mei­ner Ansicht nach auch eine tra­gen­de Rol­le. Das ändert jedoch nichts dar­an, dass das Gan­ze einer legi­ti­mie­ren­den Ideo­lo­gie bedarf. Die­se Leu­te sagen ja nicht zu ihrem Publi­kum »ich will Auf­merk­sam­keit« oder »ich will mich berei­chern«. Das wür­de nicht funk­tio­nie­ren. Hier geht es um das, was sie wirk­lich zu tun behaup­ten; um das Thea­ter­stück, das sie auf­füh­ren, mit wel­chen Moti­ven auch immer, und um die Fra­ge, war­um das so eine Zug­kraft entwickelt.

Warum es nicht funktioniert

Zwei­fel­los ist Kri­tik in der rich­ti­gen Dosis, an der rich­ti­gen Stel­le und in der rich­ti­gen Form unver­zicht­bar. Es steckt auch inso­fern ein Körn­chen Wahr­heit in die­sem Ver­fah­ren, als die Lösung eines Pro­blems oft vor­aus­setzt, sich die­ses erst ein­mal bewusst zu machen. Doch wie man es hier nicht mit der übli­chen Com­mon-Sen­se-Vor­stel­lung von Fort­schritt zu tun hat, hat man es hier auch nicht mit der übli­chen Com­mon-Sen­se-Vor­stel­lung von Kri­tik zu tun. Hork­hei­mer in »Tra­di­tio­nel­le und kri­ti­sche Theorie«:

Wenn­gleich [das »kri­ti­sche Ver­hal­ten«] aus der gesell­schaft­li­chen Struk­tur her­vor­geht, so ist es doch weder sei­ner bewuss­ten Absicht noch sei­ner objek­ti­ven Bedeu­tung nach dar­auf bezo­gen, dass irgend etwas in die­ser Struk­tur bes­ser funk­tio­nie­re. Die Kate­go­rien des Bes­se­ren, Nütz­li­chen, Zweck­mä­ßi­gen, Pro­duk­ti­ven, Wert­vol­len, wie sie in die­ser Ord­nung gel­ten, sind ihm viel­mehr selbst ver­däch­tig und kei­nes­wegs außer­wis­sen­schaft­li­che Vor­aus­set­zun­gen, mit denen es nichts zu schaf­fen hat (S. 30).

Kri­tik ist poten­zi­ell etwas Gutes und in der rich­ti­gen Form etwas Unver­zicht­ba­res. Doch man kann auch Pro­ble­me falsch dia­gnos­ti­zie­ren, mit Kri­tik fal­sche Prä­mis­sen in die Lösungs­su­che hin­ein­tra­gen und auf Lösun­gen set­zen, die alles nur schlim­mer machen. Ich beschrei­be im Fol­gen­den drei fun­da­men­ta­le Kon­struk­ti­ons­feh­ler der akti­vis­tisch-dia­lek­ti­schen Stra­te­gie, die wir über­all um uns her­um am Werk sehen.

1. Sie misst gesell­schaft­li­che Wirk­lich­keit an einer fik­ti­ven Ide­al­vor­stel­lung und nicht am rea­lis­tisch Mög­li­chen im Guten wie im Schlechten.

Etwas Bestehen­des wird negiert, indem man sicht­bar macht, dass es unvoll­kom­men ist. Doch der Maß­stab dafür ist nie ein rea­lis­ti­scher, son­dern immer ein fik­ti­ves Ide­al. Das Ide­al, der voll­kom­me­ne End­zu­stand, hat den Stel­len­wert einer Gottheit.

Neh­men wir die heu­te all­ge­gen­wär­ti­ge Nega­ti­on von Geschlecht als Bei­spiel, die unge­fähr so lau­tet: Unser Begriff von Geschlecht ist unvoll­kom­men und falsch, weil er nur zwei Geschlech­ter vor­sieht und damit abwei­chen­de Fäl­le aus­schließt, und weil er die Geschlech­ter auf Ste­reo­ty­pe fest­legt, womit er die Ent­fal­tungs­mög­lich­kei­ten der Men­schen ein­schränkt. Die Syn­the­se, die dem abhel­fen soll, ist zunächst »Gen­der« als Unter­schei­dung zwi­schen bio­lo­gi­schem und »sozia­lem Geschlecht« und nach der nächs­ten dia­lek­ti­schen Umdre­hung die voll­kom­me­ne Leug­nung des bio­lo­gi­schen Geschlechts, weil die Aner­ken­nung zwei­er bio­lo­gi­scher Geschlech­ter immer noch Men­schen »aus­schlie­ße«, »Gen­der« hin oder her. 

Die Ide­al­vor­stel­lung ist hier ein Begriff von Geschlecht, der die Unter­schei­dung zwi­schen bio­lo­gi­schem Geschlecht und Geschlech­ter­rol­len sowie alle Vari­an­ten und Son­der­fäl­le im Auf­tre­ten von Geschlechts­merk­ma­len und damit ver­bun­de­nen Iden­ti­tä­ten umfas­send abbil­det, mit dem Ziel, eine freie Ent­wick­lung all die­ser ange­nom­me­nen Geschlechts­iden­ti­tä­ten zu ermög­li­chen. Die Nega­ti­on setzt dar­an an, dass der her­kömm­li­che Geschlechts­be­griff in die­ser Hin­sicht unvoll­kom­men sei, also hin­ter dem Ide­al zurück­blei­be, was zur Fol­ge habe, dass Men­schen (mit diver­sen Geschlechts­iden­ti­tä­ten) ihr Poten­zi­al nicht ver­wirk­li­chen kön­nen – sie bekom­men etwas ein­schrän­ken­des Über­lie­fer­tes auf­ge­drückt, statt frei zu sich selbst fin­den zu können.

Ein rea­lis­ti­scher Blick wür­de hier zumin­dest auch in Rech­nung stel­len, dass die Begrif­fe »Geschlecht« sowie »männ­lich« und »weib­lich«, so unzu­rei­chend sie in man­cher Hin­sicht sein mögen, durch­aus auf evi­den­te Rea­li­tä­ten ver­wei­sen, die ele­men­tar wich­tig sind. Und er wür­de dies zum Anlass neh­men, das alles nicht ein­fach im Hau­ruck-Ver­fah­ren zu ver­wer­fen. Doch der Fokus der Akti­vis­ten ist immer ganz auf das gerich­tet, was ein Begriff oder eine Pra­xis aus ihrer Sicht nicht leis­tet, wäh­rend sie das igno­rie­ren, was er/sie leis­tet. Sie mes­sen das Bestehen­de an einem Ide­al, in die­sem Fall an einem aus ihrer Sicht per­fek­ten Geschlechts­be­griff, der die vol­le Kom­ple­xi­tät des The­mas erfasst und abbil­det, und zer­le­gen den bestehen­den, weil er hin­ter die­sem Anspruch zurück­bleibt. Es gibt kei­ne Kos­ten-Nut­zen-Abwä­gung; es gibt nur den Tun­nel­blick auf das, was unvoll­kom­men erscheint, und die Not­wen­dig­keit sei­ner Überwindung. 

Das Ergeb­nis ist jedoch kein »reich­hal­ti­ge­rer Begriff«, wie es in der Hegel-Ein­füh­rung hieß, son­dern ein zer­fa­ser­ter, aus­ge­höhl­ter und künst­li­cher Geschlechts­be­griff, der ten­den­zi­ell über­haupt nichts mehr erfasst. Frau ist, wer sich als Frau fühlt, wäh­rend unbe­stimmt bleibt, was »Frau« über­haupt bedeu­tet. Man sieht hier deut­lich die Hand­schrift der Nega­ti­on, denn klar und den Akti­vis­ten wich­tig ist hier nur, was eine Frau nach die­ser Auf­fas­sung nicht ist (das, was der all­ge­mei­ne Sprach­ge­brauch mit dem Wort meint). Haupt­sa­che Nega­ti­on, der Rest ergibt sich.

Die Idee, dass z. B. ein Mäd­chen, das kur­ze Haa­re trägt und ger­ne Fuß­ball spielt, ein Trans-Jun­ge sein müs­se, bringt nun zugleich die Geschlech­ter­nor­men mit dop­pel­ter Wucht (und mit Skal­pell bewaff­net) zurück, die das Gan­ze angeb­lich auf­bre­chen und über­win­den soll­te. Sol­che Wider­sprüch­lich­keit, von denen die Trans-Ideo­lo­gie über­quillt, ist Fol­ge einer tie­fen onto­lo­gi­schen Ver­wir­rung, die aus dem Tun­nel­blick auf die am Maß­stab des Ide­als iden­ti­fi­zier­ten »Pro­ble­me« sowie aus der Welt­fremd­heit die­ser Form der Aus­ein­an­der­set­zung mit der Wirk­lich­keit resul­tiert (sie­he unten). Und die Ver­wir­rung ist nicht unbe­dingt ein Unfall. Ver­wir­rung kann uns – vor­über­ge­hend – vor dem Schmerz bewah­ren, den ein unver­stell­ter Blick auf die Wirk­lich­keit mit sich brin­gen kann.

Mit Blick auf die Dia­lek­tik als »Metho­de« ist hier fest­zu­stel­len, dass sie nicht funk­tio­niert. War­um nicht? Weil aus der Nega­ti­on nicht auto­ma­tisch etwas Neu­es und Über­le­ge­nes folgt. Die Annah­me, dass dies gesche­he, ist der magi­sche, alche­mi­sche Anteil des Gan­zen. Auch die Pro­fes­so­ren Emundts und Horst­mann sind an der ent­schei­den­den Stel­le unterwältigt:

Hegel selbst hat aller­dings sehr wenig dazu getan, den genau­en Sinn die­ser bei­den Vor­aus­set­zun­gen [die die Dia­lek­tik beschrei­ben, sie­he ganz oben] deut­lich zu machen, obwohl er sie vir­tu­os hand­habt. Dies hat dazu geführt, dass unmit­tel­bar nach sei­nem Tod eine mitt­ler­wei­le längst unüber­sicht­lich gewor­de­ne, aber kei­nes­wegs zu einem Abschluss gekom­me­ne Dis­kus­si­on ein­ge­setzt hat, die die Inter­pre­ta­ti­on die­ser bei­den Vor­aus­set­zun­gen zum Gegen­stand hat. … Vor allem die von Hegel oft geprie­se­ne wahr­heits­ge­ne­rie­ren­de Rol­le des Wider­spruchs hat sich im Zusam­men­hang der Dis­kus­si­on um die in der Wis­sen­schaft der Logik  expo­nier­te soge­nann­te ›dia­lek­ti­sche Metho­de‹, die Hegel selbst eher als ’spe­ku­la­ti­ve Metho­de‹ bezeich­net …, als ein schwer zugäng­li­ches Lehr­stück erwie­sen (S. 62).

Zurück zur Pra­xis. Das Prin­zip, das Bestehen­de nur an einem fik­ti­ven Ide­al zu mes­sen, führt dazu, dass man ers­tens alles kaputt­kri­ti­sie­ren kann, weil in der Rea­li­tät nichts ide­al ist, und dass man zwei­tens nicht auf dem Schirm hat, wie gut oder schlecht die bestehen­de Lösung im Ver­gleich zu ande­ren rea­lis­tisch denk­ba­ren und mach­ba­ren Lösun­gen abschnei­det. Der Öko­nom Tho­mas Sowell hat ein­mal fest­ge­stellt, dass man den meis­ten lin­ken Argu­men­ten den Wind aus den Segeln neh­men kön­ne, indem man drei Fra­gen stellt: »Im Ver­gleich zu was?«, »Zu wel­chem Preis?« und »Wel­che har­te Evi­denz hast du dafür?« Hier sind alle drei einschlägig. 

Im Ver­gleich zu was? Der Ver­gleich ist immer ein fik­ti­ves Ide­al, und das Nicht­idea­le wird ver­ur­teilt. Der Ver­gleichs­maß­stab ist immer ein fik­ti­ver, nie ein realistischer. 

Zu wel­chem Preis? Der Preis, den die Gesell­schaft für das Kaputt­kri­ti­sie­ren bezahlt, wird igno­riert. Was hat zum Bei­spiel Gen­der­spra­che eigent­lich kon­kret gebracht und was kos­tet sie dem­ge­gen­über, nicht nur in Geld, son­dern auch in Spal­tung und Rei­bungs­ver­lus­ten? Was kos­tet es, wenn künf­ti­ge Gene­ra­tio­nen unse­ren gesam­ten Lite­ra­tur­ka­non als mora­lisch absto­ßend emp­fin­den, weil er nicht gegen­dert ist? Ist es ein gutes Geschäft, das alles in die Ton­ne zu tre­ten? Und noch ein­mal: was bekom­men wir dafür genau? »Quarks« und »funk«?

Wel­che har­te Evi­denz? So gut wie kei­ne. Es gibt Stu­di­en, die zei­gen, dass Gen­der­spra­che einem für den Augen­blick ande­re (weib­li­che­re) Bil­der in den Kopf setzt. Aber dar­aus zu schlie­ßen, dass ihre Benut­zung lang­fris­tig zu erheb­li­chen Ver­än­de­run­gen im Sozi­al­ver­hal­ten oder in der Berufs­wahl führt, ist von da aus immer noch ein rie­si­ger Sprung in den Glau­ben, nicht zuletzt, weil wir aus vie­len Stu­di­en wis­sen, dass sich geschlechts­ty­pi­sche Inter­es­sen in Län­dern mit mehr Wohl­stand und Chan­cen­gleich­heit stär­ker gel­tend machen und nicht weni­ger stark (Bspw. hier). Das wider­legt den popu­lä­ren Glau­ben, dass die­se Inter­es­sen­un­ter­schie­de alle­samt aner­zo­gen sei­en. Gleich­zei­tig gibt es kei­ne Kor­re­la­ti­on zwi­schen dem Stel­len­wert von Geschlecht in der Spra­che und Gleich­be­rech­ti­gung oder Chan­cen­gleich­heit in den ent­spre­chen­den Län­dern. Die har­te Evi­denz für den Nut­zen der Gen­der­spra­che ist, kurz, nicht beson­ders hart. Und auch wenn man die besag­ten Stu­di­en über weib­li­che­re Bil­der im Kopf groß­zü­gig als Evi­denz gel­ten lässt, ist noch nichts über die Kos­ten und die Bilanz gesagt. 

Doch das Ide­al der voll­kom­me­nen Gesell­schaft ist eine mora­lisch abso­lu­te Grö­ße. Des­halb kann man es nicht gegen etwas ande­res abwä­gen, und man kann dem­entspre­chend auch nicht fra­gen, was es kos­tet, ihm zur Ver­wirk­li­chung zu ver­hel­fen. Es ist ein­fach das, was pas­sie­ren und getan wer­den muss, Punkt. 

2. Sie redu­ziert gesell­schaft­li­che Pro­ble­me auf die rela­ti­ve Ein­fach­heit einer Begriffs­ope­ra­ti­on und macht sich dadurch blind für Kom­ple­xi­tät und die unwei­ger­lich fol­gen­den unbe­ab­sich­tig­ten Wir­kun­gen ihres Bemühens.

Die post­mo­der­nis­tisch gepräg­te Lin­ke, aber auch die Lin­ke über­haupt, neigt dazu, sich stark auf Spra­che zu fixie­ren und die sprach­li­che Beschrei­bung von Din­gen mit den Din­gen selbst zu ver­wech­seln. Dies ist unmit­tel­bar mit dem obi­gen Punkt ver­bun­den, dass die Wirk­lich­keit am Ide­al gemes­sen wird. Das Ide­al fin­det man in der Spra­che, oder man kann es zumin­dest in ihr kon­stru­ie­ren. Begrif­fe sind immer Ide­al­ty­pen, und Wör­ter sind gedul­dig. In der Sphä­re der Spra­che kann man jedes Pro­blem lösen, indem man ein­fach »umdenkt«. Des­halb nei­gen Ver­tre­ter die­ser Per­spek­ti­ve zu der Annah­me, alle Pro­ble­me lie­ßen sich durch ein »Umden­ken« lösen, oder füh­ren umge­kehrt die Tat­sa­che, dass Pro­ble­me nicht ver­schwin­den, auf die ver­brei­te­te Ver­wei­ge­rung eines »Umden­kens« aus Träg­heit oder Bös­ar­tig­keit zurück. Das schla­gen­ds­te Bei­spiel ist das ver­brei­te­te Fest­hal­ten an der Idee des Kom­mu­nis­mus trotz des über­wäl­ti­gen Aus­ma­ßes an Mord und Zer­stö­rung, das er gebracht hat – dies ist den Wor­ten, mit denen er beschrie­ben wird, ja nicht anzumerken. 

Mit den rich­ti­gen cle­ve­ren Wort­spie­len wird es beim nächs­ten Mal klappen

Man kann ihn schön (wenn­gleich vage) beschrei­ben, also muss man ihn irgend­wie auch umset­zen kön­nen. Zu die­sem unwill­kür­li­chen Schlie­ßen von der Spra­che auf die Wirk­lich­keit lie­fert der Post­mo­der­nis­mus die pas­sen­de Phi­lo­so­phie, die bestä­tigt, das alle Wirk­lich­keit nur sprach­li­che Kon­struk­ti­on sei. Das macht Sprach­spe­zia­lis­ten (vor allem Geis­tes­wis­sen­schaft­ler, Künst­ler und lin­gu­is­tisch begab­te Hoch­stap­ler) zu Spe­zia­lis­ten für Wirk­lich­keits­for­mung, und des­halb setzt das alles an der Spra­che an.

Neh­men wir noch ein­mal das Bei­spiel Geschlecht. »Männ­lich« und »weib­lich«, als Wör­ter betrach­tet, sind zwei getrenn­te Kate­go­rien, die sich nicht über­schnei­den. Allein die Wör­ter »Mann« und »Frau« bil­den auch nicht ab, dass es unter den Män­nern wie den Frau­en Varia­ti­on gibt. Die Wör­ter »Mann« und »männ­lich« sowie »Frau« und »weib­lich« sind immer exakt gleich. Aber alle Män­ner und Frau­en sind doch in Hin­blick auf ihre Männ­lich­keit und Weib­lich­keit nicht exakt gleich! Von hier aus gelangt man unmit­tel­bar zur oben erwähn­ten Kri­tik, die behaup­tet, die zwei bestehen­den Geschlech­ter­ka­te­go­rien sei­en für die Wirk­lich­keit der Geschlech­ter zu eng und zu starr.

Was die­ser Sicht­wei­se fehlt, ist ein Bewusst­sein dafür, dass es eine mate­ri­el­le Wirk­lich­keit gibt, die der Spra­che vor­ge­ord­net und brei­ter, tie­fer und kom­ple­xer ist als sie. Heu­te ist die Annah­me popu­lär, dass die Rea­li­tät über­haupt nur in Form sprach­li­cher Begrif­fe in unser Bewusst­sein gelan­ge. Das ist ein schwe­rer Irr­tum und ein fun­da­men­ta­les Miss­ver­ständ­nis des Ver­hält­nis­ses zwi­schen Spra­che und Wirk­lich­keit. Wir kön­nen schon im Klein­kind­al­ter vie­les ele­men­tar Wich­ti­ges wahr­neh­men und unter­schei­den, bevor wir über Spra­che ver­fü­gen. Ein Gesicht, eine mensch­li­che Stim­me, ein mensch­li­cher Kör­per ist schon für einen Säug­ling hoch­gra­dig bedeu­tungs­voll. Tie­re deu­ten ihre Umwelt ganz ohne Spra­che. Wir tun es auf viel­fäl­ti­ge Wei­se eben­falls. Wir brin­gen einen gro­ßen Reich­tum des Erle­bens mit, den wir durch Spra­che ord­nen, kom­mu­ni­zie­ren und reflek­tie­ren, der aber nicht durch Spra­che erst ent­steht und auch nicht mit ihren Bedeu­tun­gen deckungs­gleich ist.

Wie kann ein Begriff wie »Mann« oder »Frau« über­haupt Infor­ma­tio­nen über­mit­teln? Er kann es nur, weil der Adres­sat ein Ensem­ble von eige­nen Vor­stel­lun­gen und Erfah­run­gen damit ver­bin­det. Die­se wer­den nicht auf magi­sche Wei­se mit dem Wort über­tra­gen, son­dern ste­cken in sei­nem Erle­ben, sei­nen Instink­ten, sei­ner Vor­stel­lung und Erin­ne­rung und wer­den durch das Wort nur auf­ge­ru­fen. Gleich­zei­tig über­mit­telt der Spre­cher durch Kon­text und Aus­druck Infor­ma­tio­nen dar­über, wie er den Begriff ver­steht. Dadurch kann man sich auf­ein­an­der ein­stel­len und es bleibt gewähr­leis­tet, dass die Begriffs­ver­ständ­nis­se der Betei­lig­ten grob über­ein­stim­men. Sie müs­sen aber nicht exakt zu 100 Pro­zent über­ein­stim­men und kön­nen das streng genom­men auch gar nicht. Damit jedes Indi­vi­du­um sei­ne indi­vi­du­el­le Sicht in gemein­sa­men Begrif­fen aus­drü­cken kann, müs­sen die Begrif­fe in ihrer her­kömm­li­chen Form weit­aus mehr Varia­bi­li­tät zulas­sen, als man ver­mu­ten wür­de, wenn man sich auf die Wör­ter und all­ge­mei­nen Defi­ni­tio­nen fixiert, die in jedem Anwen­dungs­fall iden­tisch sind. Es sind all­ge­mei­ne (objek­ti­ve) Kate­go­rien, in denen vie­le unter­schied­li­che Spe­zi­al­fäl­le (und Sub­jek­ti­vi­tä­ten) Platz fin­den. So funk­tio­niert Sprache.

Die Fixie­rung auf Spra­che und das (sehr hege­lia­ni­sche) Miss­ver­ständ­nis der Spra­che als Abbil­dung der Form und Funk­ti­ons­wei­se der Wirk­lich­keit trägt eine gefähr­li­che See­len­blind­heit in die Aus­ein­an­der­set­zung mit der Welt hin­ein. Die Annah­me, dass ich glau­ben müs­se, alle Frau­en sei­en im Hin­blick auf ihre Geschlecht­lich­keit gleich, weil ich den­sel­ben Begriff »Frau« für sie ver­wen­de, ist erstaun­lich welt­fremd. Die Fixie­rung auf Spra­che schreibt Men­schen eine trau­ri­ge geis­ti­ge und emo­tio­na­le Armut zu, indem sie unter­stellt, dass ihr Den­ken und Erle­ben nicht tie­fer, dif­fe­ren­zier­ter und kom­ple­xer sei als die Wör­ter, die sie benut­zen. Und sie geht von einer nahe­zu belie­bi­gen Umer­zieh­bar­keit der Men­schen aus, denn wenn deren Den­ken und Erle­ben ganz aus Wör­tern besteht, kann man sie folg­lich ent­spre­chend weit­ge­hend umpro­gram­mie­ren, indem man sie mit ande­ren Wör­tern füt­tert oder vor­han­de­ne Wör­ter mit ande­ren Bedeu­tun­gen auflädt. 

Wir müs­sen den Begriff »Lie­be« so umdeu­ten, dass er »ich wäh­le nur noch SPD« bedeutet.

Wer unwill­kür­lich davon aus­geht, die gan­ze Wirk­lich­keit sei in der Spra­che auf­ge­ho­ben, ist dazu ver­dammt, immer wie­der gut klin­gen­de Lösun­gen mit funk­tio­nie­ren­den Lösun­gen zu ver­wech­seln, denn er muss glau­ben, über ein Phä­no­men umfas­send Bescheid zu wis­sen, wenn er es mit Wor­ten beschrei­ben kann. Nicht zuletzt die Kom­ple­xi­tät und Eigen­ge­setz­lich­keit der Psy­che lässt sich bei Wei­tem nicht auf die Logik von Wör­tern redu­zie­ren. Umer­zie­hungs­ver­su­che auf Basis die­ser Annah­me – zu denen auch die Gen­der­spra­che gehört – wer­den des­halb immer wie­der schei­tern und unvor­her­ge­se­he­ne Wir­kun­gen her­vor­brin­gen. Das atem­be­rau­bend kru­de Vor­ge­hen des »Anti­ras­sis­mus« zur Abschaf­fung des Ras­sis­mus – Men­schen pene­trant des Ras­sis­mus beschul­di­gen in der Erwar­tung, dass sie davon weni­ger ras­sis­tisch wer­den – ist das bes­te Bei­spiel dafür. Auf sprach­li­cher Ebe­ne mag das, was die Anti­ras­sis­ten tun, als Anti­the­se durch­ge­hen. Aber die Annah­me, dass es in der Pra­xis auch in der gewünsch­ten Rich­tung wirkt, beruht auf einem geis­ti­gen Kurz­schluss, in dem die­se Logik der Begrif­fe eins zu eins als Aus­kunft über das Funk­tio­nie­ren der Psy­che und der Gesell­schaft genom­men wird, wäh­rend unzäh­li­ge sozia­le und psy­chi­sche Kräf­te und Varia­blen aus­ge­blen­det wer­den.

Und wenn es schief­geht und sich dies nicht igno­rie­ren lässt, sind die ent­stan­de­nen Pro­ble­me und Kon­flik­te eben »Wider­sprü­che«, die im Zuge des Ver­laufs des dia­lek­ti­schen Pro­zes­ses auf­tre­ten und die Tür für neue Syn­the­sen öff­nen. Das ist nor­mal und zeigt nur, dass der Pro­zess vor­an­geht. Horkheimer:

Die Theo­rie dage­gen, die zur Trans­for­ma­ti­on des gesell­schaft­li­chen Gan­zen treibt, hat zunächst zur Fol­ge, daß sich der Kampf ver­schärft, mit dem sie ver­knüpft ist (S. 46f.).

3. Sie behan­delt den Pro­zess der Ent­ste­hung von Kul­tur als Selbst­läu­fer und unter­gräbt auf lan­ge Sicht sei­ne Bedingungen.

Wer sich auf Nega­ti­on als Mecha­nis­mus gesell­schaft­li­chen Fort­schritts fokus­siert, setzt als selbst­ver­ständ­lich vor­aus, dass über­haupt etwas da ist und immer wie­der Neu­es ent­steht, das man negie­ren und ver­voll­komm­nen kann. Doch wenn alle nur negie­ren wür­den, ent­stün­de nichts. Neben denen, die negie­ren, muss es ande­re geben, die erschaf­fen. Doch wie in Punkt eins beschrie­ben, misst der negie­ren­de Ansatz die Wirk­lich­keit nur am Ide­al und nicht etwa an einer Ver­gan­gen­heit, die weit­aus ärmer, bru­ta­ler und töd­li­cher war, oder an ande­ren Regio­nen, die es noch heu­te sind. Er weiß infol­ge­des­sen das Bestehen­de nicht zu schät­zen und ver­kennt die gesell­schaft­li­che Wirk­lich­keit. Das zeigt sich am deut­lichs­ten in der ver­brei­te­ten Hal­tung, die Wirt­schaft als Feind erschei­nen lässt.

Dahin­ter steht nicht die Absicht, durch Zer­stö­rung der Wirt­schaft die Bevöl­ke­rung in Armut zu stür­zen. Viel­mehr nimmt man irgend­wie an, dass man nach Her­zens­lust Wirt­schaft bekämp­fen kön­ne, ohne damit den Pro­zess der Schaf­fung von Wohl­stand zu beein­träch­ti­gen. Hier liegt das eigent­lich magi­sche Ele­ment des Gan­zen, das James Lind­say auch als Alche­mie cha­rak­te­ri­siert. Die magi­sche Vor­stel­lung ist die, dass die Per­fek­ti­on den Din­gen bereits inne­woh­ne, gewis­ser­ma­ßen als DNA und ein­ge­schrie­be­ner Flucht­punkt ihrer Ent­wick­lung, so dass sich das Voll­kom­me­ne irgend­wie spon­tan von selbst mani­fes­tiert, wenn man nur das als schlecht Iden­ti­fi­zier­te weg­klöp­pelt. Doch es ist kein magisch-mys­ti­sches Zu-sich-selbst-Fin­den der abso­lu­ten Idee, das Zivi­li­sa­ti­on ent­ste­hen und sich ent­wi­ckeln lässt, son­dern es sind Men­schen, die koope­ra­tiv zusam­men­le­ben und arbei­ten. Dass sie dies tun und dabei pro­duk­tiv sind, ist nicht selbst­ver­ständ­lich, son­dern an vie­le Bedin­gun­gen geknüpft; dar­un­ter bestimm­te gemein­sa­me Nor­men und Wert­vor­stel­lun­gen. Sich nicht um die­se Bedin­gun­gen zu sche­ren und sich aufs Weg­klöp­peln zu beschrän­ken ist das sprich­wört­li­che Absä­gen des Astes, auf dem man sitzt (in dem Glau­ben, dadurch das spon­ta­ne und recht­zei­ti­ge Nach­wach­sen eines bes­se­ren Astes auszulösen).

Nun kann man sagen, im Sin­ne einer Arbeits­tei­lung kön­ne es doch sinn­voll sein, wenn die meis­ten Men­schen aktiv an der Erschaf­fung von gesell­schaft­li­chen Gütern betei­ligt sind und eini­ge weni­ge haupt­be­ruf­lich Kri­tik üben und so auf eine wei­te­re Ver­bes­se­rung des Geschaf­fe­nen hin­wir­ken. Als »kri­ti­scher« Sozi­al­wis­sen­schaft­ler hat man kaum eine ande­re Wahl, als die­sen Stand­punkt ein­zu­neh­men, um die eige­ne Tätig­keit zu legi­ti­mie­ren. Doch dies funk­tio­niert aus zwei Grün­den nicht.

Ers­tens geht ein Blick auf die Gesell­schaft, der die­se grund­sätz­lich nur am Ide­al misst, mit der oben erwähn­ten Welt­fremd­heit und See­len­blind­heit ein­her. Wer bei­spiels­wei­se meint, es gebe einen bun­ten Kes­sel vol­ler Geschlech­ter und die Kate­go­rien »männ­lich« und »weib­lich« sei­en irrele­vant, der hat kei­ne Ahnung, wel­che Rol­le Geschlecht und ins­be­son­de­re die spe­zi­fi­sche Dyna­mik zwi­schen Män­nern und Frau­en für die Iden­ti­tä­ten und Moti­va­tio­nen von Men­schen spielt (zu schwei­gen von Fort­pflan­zung). Ent­spre­chend gering ist die Wahr­schein­lich­keit, dass die­ser Jemand eine Geschlech­ter­po­li­tik macht, die mehr nutzt als scha­det. Wer meint, dass Fuß­bal­le­rin­nen genau­so viel ver­die­nen müss­ten wie Fuß­bal­ler, der hat (unter ande­rem) kei­ne Ahnung, wie Märk­te funk­tio­nie­ren. Und wer meint, man kön­ne die Bezie­hun­gen zwi­schen eth­ni­schen Grup­pen hei­len, indem man eine im Namen der ande­ren beschimpft, schlägt alles in den Wind, was man über Psy­cho­lo­gie und Geschich­te weiß.

Die­se Art von Kri­tik ist weder sinn­voll noch hilf­reich, weil sie von welt­frem­den Posi­tio­nen kommt und die Wirk­lich­keit, die sie kri­ti­siert, nicht ansatz­wei­se ver­steht. Zu viel Theo­rie, zu wenig fri­sche Luft. Das wird umso mehr zum Pro­blem – und das ist der zwei­te Grund -, je mehr die Poli­tik der Nega­ti­on in einer Kul­tur bestim­mend wird, wie wir es der­zeit erle­ben. Je mehr sich das Bemü­hen und die Auf­merk­sam­keit der Men­schen auf Nega­ti­on rich­ten, des­to weni­ger Bemü­hen und Auf­merk­sam­keit rich­ten sich auf Pro­duk­ti­on, Repro­duk­ti­on und Krea­ti­vi­tät, wäh­rend die Nega­ti­on selbst nicht nur sinn­los, son­dern destruk­tiv ist, da sie alle Wer­te ent­wer­tet, die pro­duk­ti­ves Han­deln moti­vie­ren könn­ten. Du willst eine Fir­ma grün­den? Kapi­ta­lis­ti­sche Aus­beu­tung! Du willst in die Poli­tik gehen? Macht­stre­ben, toxi­sche Männ­lich­keit! Du willst eine Fami­lie grün­den? Patri­ar­chat, hete­ro­nor­ma­tiv, rück­wärts­ge­rich­tet, Kin­der sind Klimakiller!

Ver­lo­ren geht nicht nur das Wis­sen, wie das gesell­schaft­li­che Leben funk­tio­niert und wie man es am Lau­fen hält, son­dern schließ­lich auch jeder Wunsch, es am Lau­fen zu hal­ten, weil man dar­an nichts Gutes mehr sieht. Sei­nen Gip­fel erreicht die­ser Pro­zess, wenn es zur Revo­lu­ti­on oder zumin­dest zum Zusam­men­bruch der gesell­schaft­li­chen Ord­nung kommt. Dies wäre in der Theo­rie der Punkt, an dem die Nega­ti­on des Gan­zen zur Syn­the­se hin­füh­ren soll­te, also zur nächs­ten, voll­kom­me­ne­ren Ent­wick­lungs­stu­fe. Doch nie­mand weiß auch nur ansatz­wei­se, wie die­se nächs­te Ent­wick­lungs­stu­fe kon­kret aus­sieht und prak­tisch funk­tio­nie­ren soll. Die Vor­stel­lung von ihr beruht nur auf Nega­ti­on der alten, Wunsch­den­ken und Wort­akro­ba­tik. An die­ser Stel­le kann immer wie­der nur eine rui­nö­se Dik­ta­tur ent­ste­hen, die, soweit sie über­haupt lebt, von der Sub­stanz lebt; von dem, was nicht dank ihr, son­dern ihr zum Trotz noch irgend­wie funktioniert.

Überlegungen zu den Wurzeln

Woher kommt die Poli­tik der Nega­ti­on? Lind­say wür­de sagen: von Hegel, und es ist zwei­fel­los erhel­lend, die Linie von Hegel über Marx zur kri­ti­schen Theo­rie und schließ­lich Woke­ness nach­zu­voll­zie­hen. Aber ich glau­be, das Gan­ze hat noch tie­fe­re Wur­zeln, die man sich ver­ge­gen­wär­ti­gen muss. Der rei­ne Fokus auf Lite­ra­tur hat etwas von Blank-Sla­te-Den­ken: Men­schen den­ken so, weil das mal jemand so geschrie­ben hat. Aber das ist kein hin­rei­chen­der Grund. Alles Mög­li­che ist mal irgend­wo geschrie­ben wor­den. War­um wird nur man­ches davon auf­ge­grif­fen, und dies noch hoch­gra­dig selek­tiv? War­um sind man­che Ideen so viral und bestän­dig, wie sie sind?

Die all­ge­mei­ne Ant­wort ist, weil die­se Ideen mit Bedürf­nis­sen der­je­ni­gen kor­re­spon­die­ren, die sie auf­grei­fen. Sie lie­fern den Men­schen etwas, das sie brau­chen; eine Ori­en­tie­rung, eine Per­spek­ti­ve oder eine Arti­ku­la­ti­on und Klä­rung von etwas, das sie selbst wahr­neh­men. Das heißt nicht, dass die betref­fen­den The­sen rich­tig sein müs­sen – auch Ver­schwö­rungs­theo­rien lie­fern Ori­en­tie­rung, Per­spek­ti­ve und (schein­ba­re) Klä­rung von etwas, das Men­schen wahr­neh­men. Aber wenn sie auch in wesent­li­chen Punk­ten unwahr sein soll­ten, geben sie doch inso­fern Aus­kunft über die Wirk­lich­keit, als sie Bedürf­nis­se und Wahr­neh­mun­gen auf­zei­gen, die die Men­schen in einer bestimm­ten Epo­che umtrei­ben. Sie sind Ant­wor­ten auf Fra­gen und Pro­ble­me der Zeit, und auch wenn es kata­stro­phal fal­sche Ant­wor­ten sind – wie die Woke­ness eine ist, da sie Bezie­hun­gen, Insti­tu­tio­nen und see­li­sche Gesund­heit zer­stört, ohne irgend­ein Pro­blem zu lösen -, oder gera­de wenn es fal­sche Ant­wor­ten sind, müs­sen wir die Fra­gen ernst nehmen.

Im Fol­gen­den beschrei­be ich zwei Wur­zeln der Poli­tik der Nega­ti­on, die ich zu erken­nen glau­be und die mir maß­geb­lich erscheinen.

1. Nega­ti­on liegt intui­tiv nahe. Zunächst ein­mal ist es nicht wei­ter erklä­rungs­be­dürf­tig, dass wir mit einem Nein auf Umstän­de reagie­ren, die uns miss­fal­len, oder mit einem »das ist schlecht, weil«. Das ist ein­fach eine natür­li­che und spon­ta­ne Reak­ti­on auf Unlust, Miss­fal­len oder Leiden.

Erklä­rungs­be­dürf­tig ist erst die Erwar­tung, dass die­ses Nein oder die­se Anti­the­se auto­ma­tisch zu einer Ver­voll­komm­nung der Sache füh­ren wer­de. Doch sie hat eine rea­le Basis in der Posi­ti­on eines Kin­des gegen­über den Eltern. Ein Kind muss nicht bes­se­re Lösun­gen anbie­ten oder sich klar­ma­chen, wie schwer die Eltern oder vor­an­ge­hen­de Gene­ra­tio­nen gear­bei­tet haben, um ihm sein rela­tiv kom­for­ta­bles Leben zu ermög­li­chen. Das alles liegt jen­seits sei­nes Hori­zonts, und das ist zunächst auch in Ord­nung so. Das Kind bringt ein­fach zum Aus­druck, dass ihm etwas nicht gefällt, und auf schein­bar magi­sche Wei­se bekommt es mit etwas Glück eine bes­se­re Ver­si­on die­ses Etwas ser­viert. Inso­fern mag die beschrie­be­ne magi­sche Denk­fi­gur zum Teil Aus­druck einer kind­li­chen Denk­wei­se sein. 

In gewis­ser Hin­sicht ist der Staats­bür­ger in einer ana­lo­gen Situa­ti­on, denn für man­che Din­ge ist der Staat zustän­dig und der Bür­ger kann nicht viel mehr tun, als sich zu beschwe­ren, auf dass ande­re für Abhil­fe sorgen.

»Vater Staat« ist trotz die­ses Namens aller­dings im Unter­schied zu den Eltern ein unper­sön­li­ches, mit­un­ter auch bru­ta­les Gebil­de und kein lie­ben­des, sor­gen­des, per­sön­lich ver­trau­tes Gegen­über. Ich ver­mu­te, dass ein wesent­li­cher Teil der woken Wut auf Staat, Gesell­schaft und »alte wei­ße Män­ner« daher rührt, dass man in die­ser Wei­se immer wie­der mit kal­ten, unper­sön­li­chen Struk­tu­ren kon­fron­tiert ist, wo man sich nach war­mer mensch­li­cher Gemein­schaft und Obhut sehnt (die Anre­gung ver­dan­ke ich dem Buch »Auto­ri­tät« von Richard Sen­nett). Das lei­tet über zur zwei­ten, inter­es­san­te­ren Wurzel.

2. Wir seh­nen uns nach dem Erle­ben von Kohä­renz und wis­sen, dass es mög­lich ist. Der Über­gang in die Moder­ne hat die Men­schen Euro­pas in vie­ler Hin­sicht ent­wur­zelt. Er hat sie her­aus­ge­löst aus dem Kon­text ihres ange­stamm­ten Lan­des, aus ihren loka­len Fami­li­en­ver­bän­den und Gemein­schaf­ten und im Zuge des Nie­der­gangs der Reli­gi­on auch aus einer gan­zen Kos­mo­lo­gie, die bis dahin die Welt geord­net und den Men­schen einen bestimm­ten, sinn­haf­ten Platz in ihr zuge­wie­sen hat­te. Die­se Ent­wur­ze­lung hat eine Wun­de und Sehn­sucht bei den moder­nen Men­schen hin­ter­las­sen, die sie danach stre­ben lässt, die ver­lo­re­ne sozia­le Kohä­renz zurück­zu­ge­win­nen. Sie wis­sen aber nicht, wie das gehen könn­te, und meis­tens wahr­schein­lich nicht ein­mal, dass sie die­se Sehn­sucht haben und war­um. Ich glau­be, Woke­ness ist ein – kata­stro­phal fehl­ge­lei­te­ter – Aus­druck die­ser Sehn­sucht und die­ses Strebens.

Seit Urzei­ten haben Men­schen den Groß­teil ihres Lebens im Kreis ihrer Fami­lie und eines über­schau­ba­ren Stam­mes­ver­ban­des ver­bracht, in dem sie jeden Ande­ren per­sön­lich kann­ten. In sol­chen Gesell­schaf­ten war der Ein­zel­ne kon­ti­nu­ier­lich in ein dicht geknüpf­tes Netz sozia­ler Bezie­hun­gen ein­ge­bun­den, wobei die­se Grup­pen auch mora­li­sche Gemein­schaf­ten waren, also Glau­bens­ge­mein­schaf­ten im wei­tes­ten Sinn. Sie teil­ten ein Welt­bild, ein Wer­te­sys­tem und dar­auf abge­stimm­te Ritua­le und Verhaltensweisen.

Wir sind evo­lu­tio­när auf eine Kon­ti­nui­tät und Ein­bin­dung die­ser Art ein­ge­stellt, doch sie ist uns weit­ge­hend ver­lo­ren­ge­gan­gen. Emo­tio­na­le und spi­ri­tu­el­le Bedürf­nis­se nach Bezie­hun­gen, Gemein­schaft und Sinn blei­ben mehr oder weni­ger unbe­frie­digt. Zu den Fol­gen gehö­ren die moder­ne Ein­sam­keit, die epi­de­mi­sche Aus­brei­tung von psy­chi­scher Krank­heit und Sucht (vgl. »The Glo­ba­liza­ti­on of Addic­tion«) und der Sog in den Tota­li­ta­ris­mus, der eine Über­win­dung der Ver­ein­ze­lung und eine neue Ver­schmel­zung mit der Gemein­schaft unter einer sich sor­gen­den, star­ken Auto­ri­tät ver­spricht (vgl. »Die Furcht vor der Frei­heit«). 

Das Bes­te, was einem Men­schen unter moder­nen Bedin­gun­gen pas­sie­ren kann, ist das Auf­wach­sen in einer gesun­den Fami­lie. In jun­gen Jah­ren hat er dort ein Min­dest­maß die­ser sozia­len Ein­bin­dung und Gebor­gen­heit und kann sich beim Her­an­wach­sen nach und nach auf die indi­vi­dua­lis­ti­sche Gesell­schaft ein­stel­len und die Sozi­al­kom­pe­ten­zen ler­nen, die es ihm ermög­li­chen, in die­ser Gesell­schaft ein gutes Bezie­hungs­netz um sich her­um zu kultivieren.

Es dürf­ten pri­mär die­je­ni­gen sein, die das nicht haben, also die­je­ni­gen aus ver­krach­ten und dys­funk­tio­na­len Fami­li­en, die die moder­ne Gesell­schaft als kalt und feind­lich erle­ben, in ihr kei­nen erträg­li­chen Platz fin­den und des­halb den Kampf gegen sie auf­neh­men. (Die Kor­re­la­ti­on zwi­schen poli­tisch lin­ken Ein­stel­lun­gen und psy­chi­scher Krank­heit wür­de dies stüt­zen.) Ihr Lei­den ist real und nach­voll­zieh­bar. Das Bedürf­nis nach Gemein­schaft ist Teil unse­rer Natur. Die moder­ne Gesell­schaft ins­ge­samt ist aber kei­ne »Gemein­schaft« in die­sem Sinn. Sie ist zu groß, unüber­sicht­lich und unper­sön­lich. Sie besteht aus lau­ter Frem­den mit unter­schied­lichs­ten Welt­bil­dern und ist viel­fach durch unper­sön­li­che selbst­läu­fi­ge Mecha­nis­men geformt. Die offi­zi­el­le Stim­me die­ser Gesell­schaft ist der Staat, ein wie­der­um rela­tiv kal­tes und fer­nes Gebil­de von Insti­tu­tio­nen, Regeln und Funk­tio­nä­ren. Der Staat erfüllt wich­ti­ge Funk­tio­nen für das gesell­schaft­li­che Leben, aber er bie­tet kei­ne Gemein­schaft, kein mensch­li­ches Gesicht, kei­ne bedeu­tungs­vol­le sozia­le Zuge­hö­rig­keit und Gebor­gen­heit. (Und wenn er es ver­sucht, wird es gefährlich.) 

Wenn man sich sein Leben lang nach einer essen­ti­el­len Dosis sozia­ler Wär­me und Zuge­hö­rig­keit sehnt, weil man sie in der Fami­lie nicht erlebt hat, und dann not­ge­drun­gen ver­sucht, sie in der indi­vi­dua­li­sier­ten Mas­sen­ge­sell­schaft und ihren Insti­tu­tio­nen zu fin­den, muss einem die­se Gesell­schaft als kata­stro­phal unzu­rei­chend, wenn nicht als Mons­tro­si­tät erschei­nen. Es ist kein Wun­der, dass man dann auch nicht auf der ande­ren Sei­te in Rech­nung stellt, was die­se Gesell­schaft in Sachen Wohl­stand, Sicher­heit und Frie­den leis­tet. Wenn ele­men­ta­re Bedürf­nis­se unbe­frie­digt sind, fixiert sich die Auf­merk­sam­keit auf die­se Bedürf­nis­se und alles ande­re rückt in den Hintergrund.

Die­se Grund­er­fah­rung der Ent­frem­dung und Ver­ein­ze­lung in der west­li­chen Moder­ne könn­te erklä­ren, dass man heu­te Gedan­ken­gän­gen begeg­net, die Ähn­lich­keit mit den­je­ni­gen Hegels haben, ohne dass die heu­ti­gen Akteu­re direkt oder indi­rekt von Hegel infor­miert sein müs­sen. Bei­de könn­ten schlicht in ähn­li­cher Wei­se auf ähn­li­che gesell­schaft­li­che Ver­hält­nis­se reagieren.

Bei Hegel geht es sehr expli­zit dar­um, eine ver­lo­ren gegan­ge­ne sozia­le Kohä­renz wie­der­her­zu­stel­len. Sei­ne Phi­lo­so­phie wird auch als sein »Sys­tem« bezeich­net, weil sie immer dem Anspruch folgt, alles, wirk­lich alles mit­ein­an­der in Zusam­men­hang zu brin­gen, wobei Hegel annahm, dass auch die Rea­li­tät eine sol­che umfas­sen­de Kohä­renz haben soll­te und eines Tages wer­de. Dies ist der ein­gangs erwähn­te per­fek­te End­zu­stand, bei Hegel die Ver­wirk­li­chung der »abso­lu­ten Idee«. Dem Anspruch nach soll­te Hegels Sys­tem zugleich der wür­di­ge Nach­fol­ger der christ­li­chen Reli­gi­on für das auf­ge­klär­te Zeit­al­ter sein, also eine neue Ein­bet­tung von Mensch und Gesell­schaft in ein Sinn­sys­tem ermög­li­chen, wie sie zuvor das Chris­ten­tum gebo­ten hatte:

Zu den For­men der Wirk­lich­keit zäh­len für Hegel nicht zur Son­nen­sys­te­me, phy­si­ka­li­sche Kör­per und die ver­schie­de­nen Erschei­nungs­wei­sen orga­ni­schen Lebens wie z. B. Pflan­zen, Tie­re und Men­schen, son­dern auch psy­chi­sche Phä­no­me­ne, gesell­schaft­li­che und staat­li­che Orga­ni­sa­ti­ons­for­men sowie die Pro­duk­te der schö­nen Küns­te und kul­tu­rel­le Errun­gen­schaf­ten wie etwa Reli­gio­nen und Phi­lo­so­phie. Alle die­se For­men aus einem ein­zi­gen Prin­zip auf sys­te­ma­ti­sche Wei­se zu erklä­ren – und d. h., eine ein­heit­li­che Theo­rie der Wirk­lich­keit auf­zu­stel­len -, ist für Hegel des­halb eine unab­weis­ba­re Auf­ga­be der Phi­lo­so­phie, weil nur eine sol­che Theo­rie in der Lage ist, an die Stel­le des Glau­bens das Wis­sen tre­ten zu lassen.

Emundts/Horstmann, S. 9f.

Die Wahr­neh­mung von Ent­wur­ze­lung, Ver­ein­ze­lung, Frag­men­tie­rung und Wider­sprüch­lich­keit und das Bestre­ben, die­se zu über­win­den, sind Leit­mo­ti­ve sei­ner Philosophie:

Refle­xi­ons­phi­lo­so­phie ist für Hegel zunächst als Aus­druck einer Zeit, einer geschicht­li­chen Situa­ti­on bestimmt. Eine sol­che Zeit ist den Ent­zwei­un­gen der Bil­dung, die das Pro­dukt des als tren­nend und iso­lie­rend auf­ge­fass­ten Ver­stan­des ist, in der Wei­se ver­fal­len, dass ihr die Über­win­dung der Ent­zwei­ung, die Wie­der­her­stel­lung der durch den Ver­stand ›zer­ris­se­nen Har­mo­nie‹ unmög­lich ist.

Ebd., S. 25

Die Wie­der­her­stel­lung der Har­mo­nie kann der Ver­stand nicht leis­ten, dazu braucht es die »Ver­nunft« und das, was Hegel »Spe­ku­la­ti­on« nennt – die Dia­lek­tik. Ostritsch:

Spe­ku­la­ti­on ist die urei­ge­ne Auf­ga­be der Ver­nunft. Die spe­ku­la­ti­ve Ver­nunft eint und har­mo­ni­siert. Sie geht wort­wört­lich aufs Gan­ze. Dar­in unter­schei­det sich die Ver­nunft vom Ver­stand. Die­ser löst Gedan­ken und Begrif­fe in Ein­zel­tei­le auf. Er abs­tra­hiert und iso­liert, er trennt und fixiert (S. 22).

Wir alle ken­nen aus eige­ner Erfah­rung ein mehr oder weni­ger brei­tes Spek­trum von Zustän­den zwi­schen weit­ge­hen­der Har­mo­nie und schmerz­li­cher Dis­har­mo­nie. Viel­leicht spielt hier wie­der­um das kind­li­che Erle­ben eine Rol­le. Als Kind kann man in ver­schie­de­nen Situa­tio­nen eine vor­über­ge­hend unbe­schwer­te Voll­kom­men­heit erle­ben, die nahe an per­fek­tes Glück her­an­reicht und für Erwach­se­ne weni­ger zum All­tag gehört. Doch auch Letz­te­re erle­ben Momen­te, in denen alles zu stim­men scheint. Ein Hin­weis dar­auf, dass die Vor­stel­lung der her­zu­stel­len­den Har­mo­nie und die Gewiss­heit ihrer Mög­lich­keit in Gefüh­len der Erfül­lung wur­zelt, fin­det sich bei Hegel (bzw. Emundts und Horst­mann, S. 24):

… Die­ser frü­hen Kon­zep­ti­on zufol­ge ver­weist das Gefühl der Lie­be ein­dring­lich – und hier kommt Meta­phy­sik ins Spiel – auf die wah­re Ver­fas­sung der Wirk­lich­keit, die dar­in besteht, Ein­heit zu sein, die alle Tren­nun­gen und Ent­ge­gen­set­zun­gen zugrun­de liegt und die­se erst ermöglicht.

Was auch immer die Wur­zel genau ist – sofern wir das Erle­ben von Har­mo­nie ken­nen, wis­sen wir, dass es mög­lich ist, und haben einen inne­ren Antrieb, nach sol­cher Har­mo­nie zu stre­ben. Wenn wir ihr ein Stück näher­kom­men, spü­ren wir unmit­tel­bar, dass dies gut ist. Auf der ande­ren Sei­te haben wir die aus­ge­führ­te moder­ne Ver­ein­ze­lung und Ent­frem­dung als Quel­le von Dis­har­mo­nie. Aus dem inne­ren Erle­ben der Mög­lich­keit von Har­mo­nie rührt die Gewiss­heit, dass die­se mög­lich ist, und aus dem per­ma­nen­ten Erle­ben von bestimm­ten For­men der Dis­har­mo­nie rührt die Gewiss­heit, dass die gege­be­nen Ver­hält­nis­se »falsch« seien.

Die­ses Erle­ben ist so tief und evi­dent, dass alles, was der dar­aus abge­lei­te­ten Pro­gram­ma­tik wider­spricht, unwill­kür­lich als falsch erscheint und für falsch erklärt wer­den kann, unab­hän­gig vom argu­men­ta­ti­ven Gehalt. Die Erhe­bung des Gefühls über die Ratio­na­li­tät fin­det man heu­te im Kon­zept der »lived expe­ri­ence« wie­der, das den Anspruch erhebt, dass jeman­des Erfah­rung unbe­ding­te Beweis­kraft haben soll. Er fühlt sich unter­drückt, also ist er unter­drückt. Ich bin Opfer, also bin ich.

Und nun?

Was macht man nun mit die­sen Über­le­gun­gen? Lei­der bie­tet sich kei­ne offen­sicht­li­che oder ein­fa­che Lösung an. So etwas wie die Hete­ro­dox Aca­de­my von Jona­than Haidt wäre wich­tig und soll­te Schu­le machen. Die Orga­ni­sa­ti­on setzt sich dafür ein, im Wis­sen­schafts­be­trieb mehr Per­spek­ti­ven- und Mei­nungs­viel­falt zu schaf­fen. So etwas bräuch­ten wir auch für ande­re Insti­tu­tio­nen – wie Schu­len, Ver­wal­tung und Medi­en -, um dem Sek­ten­den­ken ent­ge­gen­zu­wir­ken, das sich dort immer mehr aus­brei­tet und fest­setzt, seit wir das Kon­zept »Plu­ra­lis­mus« abge­schafft und durch »Diver­si­ty« ersetzt haben, womit eine Mischung von Ver­tre­tern ver­schie­de­ner inter­sek­tio­na­ler Iden­ti­täts­grup­pen mit dem­sel­ben poli­ti­schen Stand­punkt gemeint ist.

Es wäre wich­tig, etwas gegen see­li­sche Krank­heit zu tun, umso mehr, da die­se von Gene­ra­ti­on Z an noch ein­mal dras­tisch zuzu­neh­men scheint. Lei­der ist das leich­ter gesagt als getan. Das Buch »The Coddling of the Ame­ri­can Mind« geht den Ursa­chen des nega­ti­ven Trends nach und unter­brei­tet eini­ge prak­ti­sche Vor­schlä­ge zur Abhil­fe.

Auch Ver­nach­läs­si­gung und Miss­hand­lung in Fami­li­en sind ver­track­te Pro­ble­me. Häu­fig ist klar genug, dass man eigent­lich ein­grei­fen müss­te, aber wer ist »man«? Nie­mand kann garan­tie­ren, dass aus ent­spre­chend offen­si­vem Ein­grei­fen des Staa­tes in Fami­li­en nicht im glei­chen oder grö­ße­ren Umfang neu­es Elend ent­stün­de. Auch staat­li­che Akteu­re kön­nen inkom­pe­tent und Miss­brau­cher sein oder trotz bes­ter Bemü­hun­gen eine schlim­me Situa­ti­on noch verschlimmern.

Wir müss­ten uns jeden­falls den Zusam­men­hang zwi­schen psy­chi­scher Krank­heit und patho­lo­gi­schen poli­ti­schen Sys­te­men kla­rer vor Augen füh­ren. Wir ord­nen das eine in die Kate­go­rie »Poli­tik« oder »Geschich­te« und das ande­re in »Psy­cho­lo­gie« ein – völ­lig unter­schied­li­che Fächer. Aber wenn man sich Gestal­ten wie Hit­ler, Lenin, Sta­lin und Mao anschaut, hat man ein Gru­sel­ka­bi­nett von ver­krach­ten Exis­ten­zen und Psy­cho­pa­then vor sich. Und wenn man die Mas­sen unter ihnen mit in den Blick nimmt, wird das Gru­sel­ka­bi­nett noch um eini­ges grö­ßer. Davon müs­sen wir uns alle ange­spro­chen füh­len. Es gibt extrem gestör­te Indi­vi­du­en und rela­tiv gesun­de, aber wir alle tra­gen eine dunk­le Sei­te mit uns her­um, wenn wir nicht gera­de Jesus Chris­tus oder der Bud­dha sind, und damit ent­spre­chen­de Impul­se und Potenziale.

Lei­der schei­nen beson­ders die Gestör­ten eine Kom­bi­na­ti­on von Ent­schlos­sen­heit und Cha­ris­ma mit­zu­brin­gen, die mehr oder weni­ger nor­ma­le Men­schen dazu ver­führt, sich ihnen anzu­schlie­ßen. Sie laden die Mas­sen ein, der Wirk­lich­keit ins Gesicht zu spu­cken, sich ihren dunk­len und irra­tio­na­len Impul­sen hin­zu­ge­ben und ihnen in einen Fie­ber­traum zu fol­gen. Sie wer­den zu Fly­ing Mon­keys. Für vie­le ist das reiz­voll. Sie ahnen viel­leicht, dass es ein Spiel mit dem Feu­er ist, aber sie neh­men das hin oder haben sogar Lust dar­auf. In der heu­ti­gen Post­mo­der­ne ist es eher ein Netz­werk vie­ler klei­ner und mit­tel­gro­ßer Akteu­re als ein cha­ris­ma­ti­scher Füh­rer, das uns in Fie­ber­träu­me teils lockt und teils treibt. Gleich­wohl bleibt es ein Spiel mit dem Feu­er, der Ver­lo­ckung zu fol­gen, und wir neh­men das hin oder haben sogar Lust darauf. 

Man kann leicht auch den Ein­druck gewin­nen, dass jede Hoch­kul­tur irgend­wann aus­ge­brannt ist und wir gera­de an die­sen Punkt kom­men. Dou­glas Mur­rays aktu­el­les Buch »The War on the West« beschreibt detail­liert, wie der Wes­ten an vie­len Fron­ten gegen sich selbst Krieg führt. Inso­fern ist Woke­ness nur die Spit­ze des Eis­bergs. Es ist drin­gend nötig, ihren Griff nach der Macht abzu­weh­ren, aber es ist kei­ne Lösung des tie­fe­ren Pro­blems, aus dem sie erwächst. Wir müs­sen den Brand löschen, aber danach ist das Haus immer noch morsch und brand­ge­fähr­det. Was machen wir mit dem tie­fe­ren Pro­blem, unse­rer kol­lek­ti­ven Sinn- und Iden­ti­täts­kri­se? Man­che glau­ben, man kön­ne nur noch dem Nie­der­gang zuse­hen und/oder aus­wan­dern. Wer opti­mis­tisch blei­ben will, muss dar­auf set­zen, dass irgend­wie eine kul­tu­rel­le Erneue­rung des Libe­ra­lis­mus mög­lich ist, die uns von die­ser neu­ro­ti­schen Sucht nach Selbst­zer­stö­rung befreit und befä­higt, uns in einer posi­ti­ven und rea­lis­ti­schen Wei­se zu uns selbst in Bezie­hung zu setzen. 

Ich stand am Schluss von »Der ras­sis­ti­sche Anti­ras­sis­mus« schon mal an die­sem Punkt, vor die­ser Fra­ge, was man ange­sichts die­ses Groß­schla­mas­sels tun kann und soll. Dort habe ich die Phi­lo­so­phie von Jor­dan Peter­son ange­führt, die auf so etwas wie das Erwach­sen­wer­den des Indi­vi­du­ums als Immu­ni­sie­rung gegen kol­lek­ti­ve Wahn­sys­te­me und Quel­le der kon­ti­nu­ier­li­chen kul­tu­rel­len Erneue­rung zielt. Natür­lich ist Peter­son nicht der ers­te oder ein­zi­ge, der in die­se Rich­tung denkt, nur aktu­ell wohl der bekann­tes­te und ein­fluss­reichs­te. Ich habe dies dort als ambi­tio­nier­tes Pro­jekt und rela­tiv schwa­che Hoff­nung ein­ge­stuft, aber auch als die rea­lis­tischs­te, die ich sehe. 

In der Mit­te blie­be als eine Art Stra­te­gie der spi­ri­tu­el­len Selbst­ret­tung, mit Alex­an­der Sol­sche­ni­zyn gespro­chen, »der ein­fa­che Schritt eines ein­fa­chen tap­fe­ren Man­nes: sich nicht an der Lüge zu betei­li­gen, kei­ne ver­lo­ge­nen Hand­lun­gen zu unter­stüt­zen! ›Mag dies alles sich in der Welt aus­brei­ten, etwa gar die Welt beherr­schen – aber nicht durch mich.‹ « Das allein ist schwer genug.

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